Um dann den Blicken zu entgehen, von denen ich regelrecht eingekreist bin, und mir auch nicht vorstellen zu müssen, was die Leute über mich denken, suche ich mir irgendeinen Punkt, auf den ich bis zu meiner Haltestelle in aller Ruhe starren kann.

Gesehen werden und andere ansehen, ein wechselnder Prozess des Beobachtens und Beobachtet Werdens. So ergeht es der namenlosen Protagonistin in Elif Shafaks Roman Schau mich an, übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier und erschienen im Kein & Aber Verlag 2020. Die Protagonistin ist eine übergewichtige Person, welche die Blicke der anderen Menschen ständig auf sich spürt. Sie betrachtet alles um sich herum und fühlt sich unbehaglich. Sie versucht abzunehmen, hat aber nach langen Bemühungen aufgegeben. Ihren Hunger kann sie nicht stillen und verspürt immer wieder den Drang in jeder Situation zu essen, um sich wohler zu fühlen. Die einzige Person, die sie so annimmt wie sie ist, ist ihr kleinwüchsiger Freund BC.

von Anthoula Hatziioannou

Wer kennt sie nicht, Alice aus dem Wunderland? Wie könnte man ihre Geschichte in das Hier und Jetzt übertragen? Unter Leitung der Theaterpädagogin Charlotte Arndt entwickelten die Darsteller*innen des „Theaters der Generationen“ eine moderne Fassung des britischen Klassikers: Alice als 15-jährige Teenagerin, der förmlich die Zeit wegrennt. Denn sie muss sich für den Abiball ihrer Schwester fertig machen. Und sie ist mal wieder zu spät.

von Anthoula Hatziioannou

Solange Frauen weinen, wie sie es jetzt tun – will ich kämpfen. Solange Kinder Hunger leiden müssen, wie sie es jetzt tun – will ich kämpfen (…)
Solange es Mädchen gibt, die auf der Straße unter die Räder geraten (…) – will ich kämpfen. Ich kämpfe bis zum letzten Atemzug!


William Booth

Diese Worte inspirierten Blanche Roussel, ihr Leben einem guten Zweck zu widmen. Die junge Frau lernte William Booth, den Gründer der französischen Heilsarmee, in einem Salon der Marschallin Catherine in Glasgow kennen. Im Alter von siebzehn Jahren schließt sie sich seiner Armee an, um gegen Hunger und Not auf den Straßen Frankreichs zu kämpfen. Blanche sieht es als Wink des Schicksals den Bedürftigen zu helfen, während die zweite Protagonistin, Solène, ihre eigentliche Berufung nach einem Nervenzusammenbruch erst finden muss.


von Anthoula Hatziioannou

Weihnachtsurlaub, die Tage zwischen den Jahren, Feiertage – kaum eine Zeit eignet sich besser, um den über das Jahr angesammelten Bücherstapel wenigstens ein kleines bisschen schrumpfen zu lassen. Da ich einen Teil der Feiertage traditionell in Zügen verbringe, um von einem Weihnachtsessen zum nächsten zu kommen, habe ich mir für den Abschluss des ausklingenden Jahres 2022 einen passenden Roman ausgesucht: Cay Rademachers Die Passage nach Maskat (2022).

von Wiebke Martens

„Europa fehlt es an einem Narrativ“: Schon mal diesen Satz gehört? Robert Menasse wollte dem etwas entgegensetzen. Mit dem Roman Die Hauptstadt (2017) wagte er den Sprung in ein neues Genre, den EU-Roman, mit dem die Europäische Union literaturfähig geworden ist. Nun ist sein zweiter EU-Roman erschienen: Die Erweiterung – gemeint ist hier die Erweiterung der Union durch neue Beitrittskandidaten. In gewisser Weise ist sein letzter Roman aber auch eine Erweiterung von Die Hauptstadt, mit dem er in einem ähnlichen Stil ähnliche Themen teilt: die Offenlegung der politischen Maschinerie der EU, unterschiedliche, teils parallele, teils sich überlappende Erzählstränge, diverse Handlungsorte, unübersetzte Passagen auf Fremdsprachen und eine komplexe Figurenkonstellation. Ob wir es dabei mit dem zweiten Band einer Menass’schen europäischen Trilogie zu tun haben? Wir bleiben gespannt, was die Zukunft bringt.

von Marco Maffeis

Vom 3.–10. September 2022 fand die Wuppertaler Literatur Biennale zum nun sechsten Mal statt. Viele interessante Persönlichkeiten, darunter Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Philosoph*innen u. v. m., nahmen daran teil und brachten nicht nur ihre ausgezeichneten Werke mit. Das Publikum erfuhr ebenso viel über ihr spannendes Leben. Beeindruckend ist auch die Lebensgeschichte von Safeta Obhođaš, die sie in ihren Büchern und Theaterstücken thematisiert: Sie musste aus ihrer Heimat flüchten.

von Sina Thamm

Dr. Mithu Sanyals Arbeit ist genauso vielfältig wie ihre Identitäten und Herkünfte. Sie tritt weder in Bezug auf die Thematiken, die sie betrachtet, noch auf die Texte, die sie verfasst, oder auf ihre vermeintliche Identität als klar definierte ‚Einheit‘ auf. Das ist auch gut so, denn dies ist eins der Hauptziele ihrer Arbeit: Grenzen zu öffnen.

von Camille Englert

Die sechste Wuppertaler Literatur Biennale mit dem diesjährigen Motto ‚Zuschreibungen. Geschichten von Identität‘ ist nun seit über einer Woche vergangen und einige Veranstaltungen haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. So auch das Gespräch mit Sharon Dodua Otoo am Mittwoch, dem 7. September, die aus ihrem Roman Adas Raum las, in dem die Geschichten über Ada, die sich über Jahrhunderte ziehen, spannende Perspektivwechsel aufzeigen und die Zuschauer*innen mit einigen Gedanken zurückgelassen haben.

von Sina Thamm

Von dem Cover des Buches starrt uns eine indische Göttin an. Sie hat weit aufgerissene Augen, streckt die Zunge heraus und hält in einer ihrer vier Hände ein Schwert, in einer anderen einen abgeschnittenen Männerkopf. Aus diesem Bild können interessierte Leser*innen mehrere der Themenfelder erahnen, die Mithu Sanyal in ihrem ersten Roman Identitti (2021, Hanser Verlag) ausführlich und nuanciert behandelt: „race & sex“, Indien, Verweigerung von patriarchischen Werten.

von Camille Englert

Was ist mit ‚postmigrantischer Literatur‘ gemeint, wie prägt sie gegenwärtig die deutsche Literaturlandschaft und ist es sinnvoll, sie als solche zu bezeichnen? Das sind die drei Fragen, die in der Veranstaltung ‚Diskurs & Disko – Postmigrantische Literatur‘ am 3. September 2022 im Rahmen der Wuppertaler Literatur Biennale diskutiert wurden. Drei Hauptfragen, die an große Themen wie Repräsentation, Kanon in der Bildung oder Ästhetik angrenzen – und damit nicht leicht zu beantworten sind.

von Camille Englert