Dr. Mithu Sanyal: Keine Suche nach Identität, sondern nach Identitäten 

Auf dem Bild ist Mithu Sanyal zu sehen. Sie steht neben einem Baum, trägt offenes Haar und schaut freundlich in die Kamera. Sie trägt eine rote Dupatta. © Guido Schiefer

Dr. Mithu Sanyals Arbeit ist genauso vielfältig wie ihre Identitäten und Herkünfte. Sie tritt weder in Bezug auf die Thematiken, die sie betrachtet, noch auf die Texte, die sie verfasst, oder auf ihre vermeintliche Identität als klar definierte ‚Einheit‘ auf. Das ist auch gut so, denn dies ist eins der Hauptziele ihrer Arbeit: Grenzen zu öffnen.

von Camille Englert

„Wenn wir ‚wir‘ sagen, was meinen wir damit?“, fragt Dr. Mithu Sanyal in ihrem Gespräch über ‚Identität und ich‘ mit Anja Backhaus im WDR. Bei dieser Frage treffen viele große Konzepte aufeinander, die schwierig zu beantworten sind, mit denen Mithu Sanyal sich aber seit Jahrzehnten befasst: Herkunft, Identität, Diversität, Sprache, Repräsentation, Macht und Machverhältnisse. Hinzu kommen die sozialen Konstrukte ‚Race‘, ‚Sex‘ und ‚Gender‘ sowie die Themen der Ermächtigung, der Zuschreibungen, und des Rechts, gehört zu werden.

Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Autorin: Betroffene, aber vor allem Expertin

Für diese Themen ist Dr. Mithu Sanyal sowohl Betroffene als auch Expertin. Betroffene, weil sie ihr Leben lang auf die Frage „Wo kommst du her?“ gestoßen ist und das Gefühl hatte, darauf immer die falsche Antwort zu geben. Sie stammt aus Düsseldorf, wo sie 1971 als Kind eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter auf die Welt kam. Wenn sie sich aber als Düsseldorferin vorstellte, folgte die Gegenfrage: „Wo kommt du wirklich her?“. Wenn sie auf ihre polnischen Wurzeln hinwies, waren die Gesprächspartner*innen auch nicht zufrieden, sondern erst, wenn sie ihren indischen Vater nannte. Wobei selbst da die Enttäuschungen zu spüren waren, wenn sie auf die Frage „Sprichst du Indisch?“ erst erklären musste, dass es eine Vielzahl an offiziellen Sprachen in Indien gibt, um dann mitzuteilen, dass sie eine davon tatsächlich beherrscht, und zwar Englisch. Mithu Sanyal entsprach also nie der Person, die sich ihre Gesprächspartner*innen wünschten: nicht wirklich indisch, nicht wirklich deutsch, nicht wirklich polnisch. Abgesehen davon, dass man nur durch das Teilen der eigenen persönlichen, komplexen Lebensgeschichte auf die Frage nach der Herkunft antworten kann – die man nicht unbedingt jeder*m mitteilen möchte – führen diese ständigen Zuschreibungen aufgrund des Aussehens zu einem Chaos der Identitäten: Wer bin ich wirklich? Wie kann ich es beweisen? Zu wem gehöre ich? Bin ich denn überhaupt richtig? Betroffen ist die Autorin auch, weil sie in den siebziger Jahren in Deutschland über ihre Erfahrungen als rassifizierte Person nicht sprechen durfte, da im hiesigen dominanten Diskurs stoisch behauptet wurde, dass Rassismus nicht existiere, da ‚Rasse‘ nur ein Konstrukt des Nationalsozialismus war.

Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Dr. Mithu Sanyal ist aber nicht nur eine Betroffene, sondern in erster Linie eine Expertin dieser Forschungsfelder. Sie verfasst regelmäßig eine Vielzahl an Textbeiträgen unterschiedlicher Formate und Themen. Als Journalistin berichtet sie über kulturelle Ereignisse der Gegenwart und Vergangenheit, unter anderem bei der taz, beim WDR, beim Deutschlandfunk oder bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie produziert außerdem Hörspiele und Features, für die sie bereits dreimal den Dietrich Oppenberg Medienpreis der Stiftung ‚Lesen‘ bekam. Im Rahmen ihres Studiums und ihrer Promotion entwickelte sie ihre umfangreiche Sachkunde im Feld der Sexismusforschung: Nach ihrer Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erschien ihr Sachbuch Vulva. Das unsichtbare Geschlecht (2009), eine Kulturgeschichte des weiblichen Genitals. 2013 schrieb sie zusammen mit den #aufschrei-Frauen „Ich bin kein Sexist, aber …“ Sexismus erlebt, erklärt und wie wir ihn beenden, gefolgt von Sanyals Debattengeschichte Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens (2016), die mit dem Preis ‚Geisteswissenschaften International‘ ausgezeichnet wurde. Seit der Veröffentlichung ihres Debütromans Identitti (2021), der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet wurde, gilt sie als eine der Hauptstimmen zu Rassismus-, Sexismus- und Identitätsfragen in der Öffentlichkeit.

Engagiert für das Gespräch zwischen allen Stimmen der Gesellschaft

Mithu Sanyals Expertise in diesen Forschungsfeldern bewegte das Wuppertaler Kulturbüro dazu, sie als Patin für die sechste Wuppertaler Literatur Biennale auszusuchen – eine Premiere – damit sie das Team bei dem Vorhaben unterstützt, das Thema ‚Zuschreibungen. Geschichte von Identität‘ reflektiert und differenziert anzugehen. Im Rahmen der Literatur Biennale hielt sie eine Lesung zu Identitti, kuratierte aber auch zwei ‚Diskurs & Disko‘-Veranstaltungen, bei denen jeweils über die Themen ‚Postmigrantische Literatur‘ (mit Deniz Utlu und Prof. Riem Spielhaus) und ‚Alle reden vom Canceln – wir auch!‘ (mit Antje Schrupp und Jayrôme Robinet) diskutiert wurde. Im Anschluss daran wurde dann mit DJanes gefeiert – ein Konzept, das die Grenze zwischen der anerkannten Leitkultur (die Literatur und Wissenschaft) und der subversiven Subkultur sprengt und dazu einlädt, dass alle Teilhaber*innen der pluralen Gesellschaft miteinander sprechen, um diese fair, konstruktiv und inklusiv mitzugestalten.

Hauptstimme der Debatte

Dr. Mithu Sanyal hat mit Identitti die Identitätsdebatte in Deutschland neu angeregt. Plötzlich war sie in den deutschsprachigen Medien überall zu hören, zu sehen und zu lesen, im Radio, im Fernsehen und in Zeitungen. Kein Wunder: Sie ist nicht nur eine herausragende Expertin in ihrem Feld, sie versteht es auch, verständlich und offen darüber zu reden und zu referieren. Sie kommt den Zuschauenden in den Gesprächen immer sympathisch entgegen und zerbricht das (ungerechte) Vorurteil gegenüber Wissenschaftler*innen, dass diese zwar ihr Fach beherrschen, aber nicht in der Lage seien, die Fragestellungen für alle greifbar und verständlich auszudrücken. Dr. Mithu Sanyals Ziel ist es dabei nicht, ihren Zuhörenden das Leben zu erklären, sondern ihr Wissen zu teilen und dabei das Gespräch zu fördern.

Sie freut sich darüber, dass sie zu einer besseren Repräsentativität und Diversität der pluralen deutschen Gesellschaft beitragen kann, warnt aber vor dem Eindruck, diese Diversität sei jetzt vollständig repräsentiert bzw. erreicht. Mit ‚Diversität‘ sei in letzter Zeit vermehrt Hautfarbe gemeint, während früher eher an Gender gedacht wurde. Der Fokus wird in den Diskussionen oft auf die Sprache gelegt: Wer darf sprechen und wie reden wir darüber? Dabei ist nicht nur die Sprache wichtig. Natürlich brauchen wir Begriffe, um Probleme benennen und über diese diskutieren zu können. Begriffe alleine reichen aber nicht aus. Es gibt andere sehr konkrete Probleme und Fragen, die ebenfalls betrachtet und aktiv verändert werden müssen: den strukturellen Rassismus in unseren Institutionen, wie der Schule, der Polizei oder verschiedenen Behörden zum Beispiel – der sich auch, aber nicht nur in der Sprache ausdrückt.

Identitti: wichtig, erfrischend, zugänglich

Wie konnte Mithu Sanyals erster Roman eigentlich eine so große Resonanz erlangen? Wahrscheinlich, weil darin eben diese komplexen Themen, auf eine kluge, spannende, differenzierte und unheimlich humorvolle Art zu entdecken sind und greifbar gemacht werden. Wahrscheinlich auch, weil die Figuren im Roman keine Klischees verkörpern, sondern ambivalente Menschen sind, die vieles richtig sagen und tun, aber auch viel Falsches. Mithu Sanyal erklärt uns:

„Menschen können Vieles gleichzeitig sein, sie können sogar rassistisch und antirassistisch sein. Alles kann nebeneinander passieren. Dadurch ist es aber nicht egal. […] Wir müssen versuchen, ethisch zu handeln in diesen ganzen Komplexitäten.“

Dr. Mithu Sanyal

Letztlich hatte das Buch auch so eine große Resonanz, weil es zwar eine Fiktion ist, aber doch so realistisch und aktuell erscheint. Die zahlreichen Stimmen und Aussagen in dem Roman überfordern mit einem Überfluss an Informationen sowohl die Leser*innen als auch die Protagonist*innen und spiegeln damit brisant unsere Gesellschaft wider, in der so viel gleichzeitig passiert, ohne dass wir Zeit haben, uns ausgiebig mit einem Thema auseinanderzusetzen. Mithu Sanyal vermischt in Identitti Blog-, Twitter- und Zeitungsbeiträge mit Gesprächen zwischen Protagonist*innen und sprengt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, indem sie sogar echte Beiträge von Gegenwartsautor*innen einflicht. Vielleicht passiert genau das, wenn eine Kulturwissenschaftlerin, die sich analytisch und systematisch mit dem strukturellen Rassismus und Sexismus und deren Einflüssen auf die gesamte Gesellschaft befasst, und sich gleichzeitig als Journalistin fortlaufend auf dem neuesten Stand der Ereignisse hält, Romane schreibt: Sie kann präzise und realitätsgetreu eine wundervolle Fiktion erschaffen, die es den Leser*innen ermöglicht, mit Humor und Ironie über diese so schwierigen und geladenen Themen nachzudenken. Damit eröffnet sie erneut das Gespräch über ‚Identität‘, ‚Sex‘, ‚Race‘ und zahlreiche andere soziale Konstrukte.

Sprechen, um Differenzen zu überwinden

Bei Identität gilt: Es ist nicht schlimm, dass es Kategorien gibt, denn irgendwie brauchen wir sie. Problematisch wird es nur, laut Sanyal, wenn diese Kategorien als Grenzen funktionieren, um eine Person in eine Box einzuschließen – oder andere aus einer Gruppe auszuschließen. Wir sollten von ‚Identität‘ im Plural sprechen, erstens, weil alle Identitäten im ständigen Wandel sind, und zweitens, weil jede*r aus verschiedenen Identitäten besteht. Wichtig ist, dass das Gespräch und die Möglichkeiten offen bleiben. Ich bin nicht meine Sprache, meine Religion, mein Land, meine Hautfarbe, mein Gender. Ich stecke nicht in einer Kategorie fest. Deswegen sind die Debatten um die sozialen Konstrukte ‚Identitäten‘, ‚Sex‘, ‚Race‘, und ‚Herkunft‘ so wichtig. Deswegen müssen wir die Machtverhältnisse, die Diversität und deren Repräsentation in den Gesellschaften beobachten und analysieren. Deswegen müssen die verschiedenen Akteur*innen einer Gesellschaft über die Problematik von Zuschreibungen und mangelnder Repräsentation reden: Weil wir zusammen eine plurale Gesellschaft bilden, in der das ‚Anderssein‘ für viele bedeutet, dass sie benachteiligt werden – und diese Benachteiligungen, die auf unbegründeten und grenzschaffenden sozialen Konstrukten basieren, eben ungerecht sind. Dr. Mithu Sanyal wird ihre Arbeit als Wissenschaftlerin und Autorin fortführen, um zum besseren Verständnis unserer gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhelfen. Die gespannten Lesenden können sich bereits auf zukünftige Texte freuen, zum Beispiel auf Mithu Sanyal über Emily Brontë, der demnächst beim Kiepenheuer & Witsch Verlag in der Reihe „Bücher meines Lebens“ erscheinen wird.