Im Westbalkan nichts Neues: Die EU und die, die draußen vor der Tür stehen

Auf der Bild zu sehen ist Robert Menasses Roman "Die Erweiterung", daneben befindet sich eine Flagge der Europäischen Union. Beide Gegenstände liegen auf einem Holztisch.

„Europa fehlt es an einem Narrativ“: Schon mal diesen Satz gehört? Robert Menasse wollte dem etwas entgegensetzen. Mit dem Roman Die Hauptstadt (2017) wagte er den Sprung in ein neues Genre, den EU-Roman, mit dem die Europäische Union literaturfähig geworden ist. Nun ist sein zweiter EU-Roman erschienen: Die Erweiterung – gemeint ist hier die Erweiterung der Union durch neue Beitrittskandidaten. In gewisser Weise ist sein letzter Roman aber auch eine Erweiterung von Die Hauptstadt, mit dem er in einem ähnlichen Stil ähnliche Themen teilt: die Offenlegung der politischen Maschinerie der EU, unterschiedliche, teils parallele, teils sich überlappende Erzählstränge, diverse Handlungsorte, unübersetzte Passagen auf Fremdsprachen und eine komplexe Figurenkonstellation. Ob wir es dabei mit dem zweiten Band einer Menass’schen europäischen Trilogie zu tun haben? Wir bleiben gespannt, was die Zukunft bringt.

von Marco Maffeis

Es ist ein dunkler, noch warmer Oktoberabend, als ich den Autor bei einer Lesung in der deutschen Provinz treffe. Robert Menasse scheut nicht davor zurück, eine ‚Lesung‘ wörtlich zu nehmen: Er liest tatsächlich sehr lange Passagen vor und es ist für mich ein Vergnügen, der sanften Melodie seines österreichischen Akzents zuzuhören.

Obwohl es keine lineare Erzählung ist, wird der Roman von einem roten Faden durchzogen. Es ist der rote Faden der albanischen Flagge, denn alles dreht sich um den scheinbar alternativlosen Eintritt Albaniens in die EU:

Albanien wird in die EU kommen. Entweder kommt Albanien in die EU, oder es kommen die Albaner.

Dies verspricht der Ministerpräsident jenes Landes, ein Künstler und ehemaliger Basketballspieler. Seine zahlreichen Reformen reichen nicht aus, um einige Mitgliedstaaten – allen voran Frankreich – zu überzeugen, ihr Veto bei den Beitrittsverhandlungen zurückzuziehen. Sie weigern sich, ein mehrheitlich muslimisches Land in die EU aufzunehmen. Dem albanischen Präsidenten ist klar: Sein kleines und bevölkerungsarmes Land ist für den europäischen Markt wenig interessant, verfügt aber über immense Bodenschätze. Damit übt er Druck auf die EU aus, indem er immer wieder mit China kokettiert. Doch nachdem auch das nicht zu funktionieren scheint, rät ihm ein Dichter aus seiner Entourage, die Kraft der Symbole einzusetzen. Sein Symbol ist der Helm von Skanderbeg.

Skanderbeg ist „der Mann, der die Albaner einte“ und „der Beschützer des europäischen Christentums gegen die Osmanen“, also gleichzeitig ein europäischer und ein Nationalheld. Der albanische Ministerpräsident will sich mit dem Helm des Skanderbeg krönen und seine souveräne Machtposition gegenüber der EU demonstrieren. Das Problem ist: Der begehrte Helm befindet sich in einem Museum in Wien. Was tun?

Fernab von den verstrickten Abenteuern des albanischen Heiligtums finden sich zwei ‚Blutsbrüder‘: Adam und Mateusz sind Söhne polnischer Widerstandskämpfer, die gemeinsam ein Priesterseminar besuchen, wo sie den Eid der ‚Kämpfenden Solidarność‘ sprechen. Vierzig Jahre später könnten ihre Schicksale nicht gegensätzlicher sein: Mateusz ist der nationalistische, antisemitische und islamophobe Ministerpräsident Polens geworden. Adam, der aus einer jüdischen Familie stammt, ist in der europäischen Kommission in der Generaldirektion für Erweiterung tätig. Adam arbeitet eifrig für den Eintritt Albaniens in die EU, während Mateusz dies mit allen Mitteln verhindern will. Ihre Meinungsverschiedenheit ist zu bitterem Hass eskaliert. Enttäuscht konstatiert Adam:

Ja, sie hatten für die Freiheit gekämpft. Und jetzt, aufgestiegen zum Regierungschef, führte er das Land so, als wäre es noch immer oder wieder besetzt oder fremdbestimmt. Von jüdischen Bankern aus Brüssel. Das war nicht Treue zum Schwur des Freiheitskampfes, das war Verrat an die Freiheit, die sie errungen hatten.

Neben den politischen Intrigen finden auch Liebesgeschichten einen Platz, wie zwischen Karl Auer, ein Kollege Adams aus Österreich, und der albanischen Juristin Baia, oder zwischen dem Pressesprecher des albanischen Präsidenten Ismail und dem*r non-binären Journalist*in Ylbere.

Das Kreuzfahrtschiff, das auf dem Umschlag abgebildet ist, stellt den Höhepunkt dar, in dem alle Erzählstränge zusammenfinden und eine unerwartete wie auch spektakuläre Wendung nehmen werden. Das Bild der EU, das aus dem Roman hervorgeht, ist weder romantisierend und blind optimistisch noch ätzend kritisch und a priori misstrauisch. Menasse weiß die scheinbar abstrakten Krisen der EU in persönlichen Konflikten zwischen seinen Figuren zu übersetzen und lässt so sein Publikum die Beziehung zur EU hautnah erleben. Für die meisten wird das Buch nicht zuletzt eine Lücke füllen, über ein „schwarzes Loch mitten in Europa, […] man sagte Albanien und kein Mensch hatte eine Vorstellung, eine Ahnung“: Eine Gelegenheit, schon mal einen Blick auf ein zukünftiges EU-Mitglied zu werfen?

Der Suhrkamp-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.