Identität, Identitätspolitik und cultural appropriation als Spektrum

Auf dem Bild zu sehen ist Mithu Sanyals Roman "Identitti". Der Name des Romans steht in Großbuchstaben auf dem Cover. Im Hintergrund sieht man die Göttin Kali. © Lara Ehlis

Von dem Cover des Buches starrt uns eine indische Göttin an. Sie hat weit aufgerissene Augen, streckt die Zunge heraus und hält in einer ihrer vier Hände ein Schwert, in einer anderen einen abgeschnittenen Männerkopf. Aus diesem Bild können interessierte Leser*innen mehrere der Themenfelder erahnen, die Mithu Sanyal in ihrem ersten Roman Identitti (2021, Hanser Verlag) ausführlich und nuanciert behandelt: „race & sex“, Indien, Verweigerung von patriarchischen Werten.

von Camille Englert

Der Einstieg in diese (und andere) Themenfelder wird durch einen polemischen Auslöser gleich am Anfang des Buches eingefädelt: Saraswati, eine Professorin aus Düsseldorf, überall bekannt als Expertin, fast als Göttin der Debatten und Reflexionen über Identität, Postcolonial Studies, Sex und Rassismus, die sich immer als PoC (Person of Color) ausgegeben hat, ist weiß. Sie ist als Sarah Vera Thielmann in Deutschland aufgewachsen, mit deutschen weißen Eltern und hat in Wirklichkeit gar keine biologische Verbindung zu Indien. Sarah Vera hat durch verschiedene Mittel ihre Hautfarbe geändert, ihr früheres Leben in Vergessenheit geraten lassen und sich eine neue Identität aufgebaut. Sie ist Saraswati geworden, eine indische Frau, und somit eine PoC. Als dieses Geheimnis gelüftet wird, beginnt das, was dieses Buch so besonders macht: Die Lesenden werden in einen Sturm aus Reaktionen (Hass, Abneigung, Empörung, Ekel, Enttäuschung, Identitätskrise) und daraus resultierende Diskussionen und Überlegungen hineingeworfen. Handelt es sich bei dieser Lüge um einen rassistischen Akt, eine Aneignung des Leidens der BiPoC (Black, indigenous, People of Colour)? Was ist eigentlich Hautfarbe und was hat sie genau mit Identität zu tun? Kann/darf jemand (für sich selbst) entscheiden, PoC zu sein? Ist Identität genauso ein Konstrukt wie Gender?

Um die verschiedenen Stimmen, die sich zu diesem Ereignis äußern, zu repräsentieren, hat Mithu Sanyal eine außergewöhnliche, aber äußerst passende Lösung gefunden. Jene werden abseits der Gespräche zwischen den Protagonist*innen mittels Blogeinträgen, Tweets und Zeitungsartikeln abgebildet. So kann sich ein breites gesellschaftliches Spektrum zumindest einmal äußern – von dem braunen Horst über den konservativen Linken bis hin zu den Denker*innen, die im Herz der Kontroverse die eigentlichen Fragen erkennen. Als Hauptstimme oder Moderatorin fungiert Nivedita, eine Studentin, die ihre Gedanken und Gespräche mit ihrer Göttin Kali in einem Blog wiedergibt. Mithu Sanyal baut aber nicht nur Intermedialität in ihrem Roman ein, sondern sprengt sogar die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Denn obgleich die fiktionalen Charaktere die Hauptstimmen bilden – fiktionale Charaktere, die zum Teil stark an reale Personen wie Rachel Dolezal oder bell hooks erinnern – sind manche der Tweet- und Artikelautor*innen reale Menschen der gegenwärtigen deutschen Debattenszene, die für dieses Buch eine Reaktion verfasst haben; so als hätten sie sich geäußert, wenn der Fall Saraswati wirklich stattgefunden hätte (u. a. Şeyda Kurt, Paula-Irene Villa Braslavsky).

Sowohl mit der Form als auch mit der Sprache hat Mithu Sanyal es also geschafft, unsere heutige vermeintlich woke Gesellschaft präzise abzubilden. Die sprachliche Virtuosität des Romans ist beeindruckend. Wissenschaftliche Konzepte werden kurz und klar abgebildet, Deutsch und Englisch werden schwindelerregend stark vermischt. Nicht nur in den Tweets, sondern auch in den Dialogen und manchmal sogar in der Stimme der Erzählerin. Die ständigen Sprünge zwischen den Zeiten – denn der Roman ist keine lineare Erzählung – ermöglichen es den Lesenden immer wieder zu verstehen, warum die Charaktere reagieren, wie sie reagieren. Dabei handelt es sich um Persönlichkeiten, die man als Leser*in nie direkt als wirklich sympathisch wahrnehmen kann. Jede für sich ist recht irritierend, auf ihre eigene Art und Weise. Doch durch die Rückblicke in ihre Vergangenheiten kann man für ihre Handlungsweisen Verständnis aufbringen, und ihnen ihren Narzissmus weitestgehend verzeihen. Insofern bildet dieser sukzessive Prozess des Verstehens der Charaktere Saraswatis Grundlehre und Agenda für das Zusammenleben der Menschen ab:

„Menschsein heißt Verletzlichsein. Aber wir sind eben nicht nur im Schmerz vereint, wir sind auch in der Liebe vereint. Im Interesse an einander, in Empathie und Anteilnahme. Wir alle sind dadurch alle. Wir alle sind viele. Wir alle sind alle Geschlechter, alle races, alle Klassen, alle Kasten, wir alle sind ganz unreligiös das Wunder der Schöpfung, und als solches sollten wir zwischendurch ab und zu innehalten und den Schauer der Ehrfurcht vor unserer komplexen Existenz verspüren.“

Mithu Sanyal, Identitti (S.417)

Die Sprünge zwischen der Erzählung, den Dialogen, den Blogeinträgen, Tweets und Zeitungsartikeln reflektieren ebenfalls Saraswatis Grundlehre. Zu lesen reicht nicht aus. Nicht zu lesen definitiv auch nicht. Wir müssen das, worüber wir nachdenken, forschen und diskutieren, aktiv in unserem Leben praktizieren. Und dann müssen wir wiederrum erneut forschen, um Phänomene und Nuancen in unserem praktizierten Leben zu verstehen und dann erst darüber zu urteilen. Diese Lehre begreifen wir als Leser*innen durch Nivedita. Ihr gelingt es, über ihren Schmerz hinaus zu sehen und die richtigen Fragen zu stellen, beziehungsweise überhaupt einen Dialog zu suchen.

Mithu Sanyal schafft mit diesem Roman einen Raum, in dem die Lesenden über wichtige, kontroverse und schwer zu begreifende Themen nachdenken und reflektieren können: Liebe, Rassismus, Identität, Sex, Schmerz, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sowie die schwammigen Grenzen zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung, Erfahrung und Identität. All das geschieht in einer entspannten, lustigen und ironischen Atmosphäre, die es dem*der Leser*in ermöglicht, wirklich nachzudenken. Denn das, was jede*r aus dieser Lektüre mitnimmt, ist dass Identität weder einfach noch selbstverständlich ist.

„Der Grund, aus dem Saraswatis Täuschung uns so tief trifft, ist, dass soziale Ungleichheiten eine ästhetisch subjektive Ausdrucksform haben, kurz gesagt: Man sieht und hört Menschen anhand vieler körpergebundenen Zeichen an, welchen Platz sie in dieser sozialen Welt annehmen. Wenn aber eine Person ihren Platz so radikal ändert, wenn sie so virtuos auf der Tastatur dieser Zeichen spielt, dann zeigt sie, dass diese Zeichen und ihre Deutungen hochgradig konventionalisiert und immer auch zeitgebunden sind.“

Beitrag von Paula-Irene Villa Braslavsky in Identitti von Mithu Sanyal (S.361)

Diese Rezension ist im Rahmen des Begleitseminars zum Kolloquium Literarische Neuerscheinungen im Wintersemester 2021/2022 entstanden.