Anna Baar – Nil

Die Ausgangssituation erscheint simpel: Der*die namenlose Erzählerin schreibt für ein Frauenmagazin den Fortsetzungsroman und hat nun, nachdem die Situation sich seit Längerem darauf zugespitzt hat, ein vom Chefredakteur gefordertes Ende der Geschichte verfasst. Doch hier hört es schon auf mit dem Simplen und das Seltsame betritt die Bühne. Denn irgendetwas scheint mit dem Ende der Geschichte nicht in Ordnung zu sein. Warum sonst findet sich ihr*e Verfasser*in in einem Verhör wieder, wird beschuldigt, am Verschwinden einer Person beteiligt zu sein? Handelt es sich etwa doch, wie von der*dem Verfasser*in befürchtet, um mehr als bloße Fiktion?

von Kerstin Kiaups

In den letzten Tagen habe ich mich am Schlussteil versucht, schließlich alles verworfen, denn wie es geschrieben stand, ging mir alles so nahe, als ginge es dabei um mich, aber nicht rückwärtsgerichtet, nicht memoirenhaft aus dem Leben gegriffen, sondern wahrsagerisch, mitten ins Leben hinein.

Anna Baar erschafft mit ihrem Roman Nil, der in diesem Jahr beim Wallstein Verlag erschienen ist, auf knapp 150 Seiten ein erstaunliches Vexierbild. Zwischen dem Schicksal der*dem namenlosen Ich-Erzähler*in und der Geschichte der Hauptfigur ihrer*seiner Erzählung scheint es trotz aller Verschleierungstechniken auffallende Verbindungen zu geben.

Zwar fände man manche Gemeinsamkeiten zwischen denen und mir, aber auch Unterschiede. Name, Alter, Beruf – in nichts davon sollen sie mir gleichen. Die Handlung gestalte ich schlicht: Einer geht nachts im Schneesturm immer dieselbe Straße entlang, um den einen zu finden, der ihn erwartet, erkennt. Auf dem Weg geht ihm auf, dieser Jemand bin ich. Mein Name tut nichts zur Sache. Seiner soll Sobek sein.

Rahmen- und Binnenerzählung ähneln sich, scheinen mitunter dieselben Sachverhalte zu schildern, nur aus anderen Blickwinkeln betrachtet. Glaubt man noch anfangs, die Informationen würden einander ergänzen und ein klares Bild ergeben, erscheint es mit der Zeit eher ein Wackelbild zu sein, das sich Verlauf ergibt und sich bei jeder Neigung plötzlich verändert. Eindeutige Erkenntnis bleibt der*dem Leser*in verwehrt, aber vielleicht nicht nur ihr*ihm. Baar untersucht mit ihren Figuren die Schnittmenge von Erinnerung, Fiktion und Wahrsagung, präsentiert Erzählen als Realitätsbewältigung und -konstruktion gleichermaßen. Sie lässt sie an der Unvereinbarkeit von Innerlichem und Äußerlichem, der schieren Unzulänglichkeit von Sprache verzweifeln und zeigt auf beeindruckende Weise wie wichtig der Aspekt „Wer erzählt?“ für die Frage der Identität ist.

Gut, unterbrach ihn die Frau, so bist du eben ein Dichter, dem die Geschichte fehlt. Nimm meine, ich sag sie dir an!

Worum soll es denn gehen?

Schreib, dann werden wir sehen.

Die*der Leser*in wird zur*m Fährtenlesenden, stückelt sich das Geschehen zusammen, prüft die Zuverlässigkeit der Erzähler, puzzelt an Ursache und Wirkung und versucht, aus dem Wust an spärlichen Informationen zu rekonstruieren, was wahr und was Wahn ist. Die Figuren bleiben dabei Skizzen; mit wenigen, oft groben Strichen angerissene Gestalten, die erst im Verlauf der Seiten ein Gesicht bekommen, aber auch dann oft ohne Charakter bleiben. In manchen Fällen erhält die*der Leser*in von ihnen bis zum Schluss nur einen Namen, wie beiläufig im Gespräch erwähnt, ohne dass die Rolle der Figur oder ihre gleichzeitig offensichtliche und obskure Relevanz näher erläutert werden. Manche*r wird diese Umstände als Schwäche des Romans verstehen, sich über das wenig Konkrete ärgern und ihrem*seinem Wunsch nach Klarheit Luft machen – lässt man sich jedoch auf Baars Text ein, erfasst einen bald seine Sogkraft. Mit seiner Kombination aus surrealer Atmosphäre, rätselhaften Begebenheiten und einer Sprache, die einen immer noch einen weiteren Satze lesen lässt, bietet Nil eine faszinierende Lektüre, die auch nach ihrem Ende nachhallen wird.