Najat El Hachmi – Eine fremde Tochter

Es war Ende der Achtziger, als die Schriftstellerin Najat El Hachmi mit ihrer Mutter Marokko verließ, um ihrem Vater nachzuziehen, der damals bereits eine Zeitlang nahe Barcelona lebte. Es war dieselbe Zeit, ebenfalls Ende der Achtziger, als sich in Saragossa – gar nicht allzu weit entfernt von der katalanischen Metropole – die Jungs von „Héroes del Silencio“ um ein Blatt Papier versammelten und eine der großen Hymnen der spanischen Rockgeschichte niederschrieben: Entre dos tierras – zwischen zwei Welten. Es ist nicht überliefert, ob El Hachmi, die mittlerweile sechs Bücher auf Katalanisch geschrieben hat, das Lied der „Héroes del Silencio“ auf ihrer Reise ins neue Leben gehört haben könnte. Für die namenlose Protagonistin ihres kürzlich auf Deutsch erschienenen Romans Eine fremde Tochter (Orlanda-Verlag, übersetzt von Michael Ebmeyer) könnte „Zwischen zwei Welten“ aber jedenfalls ein Lebensmotto sein: Die junge Frau, gerade mit der Schule fertig, lebt hin- und hergerissen zwischen den traditionellen marokkanisch-berberischen Werten ihrer Mutter, mit der sie eine winzige Wohnung in der katalanischen Kleinstadt Vic bewohnt, und dem verheißungsvollen Leben der europäischen Jugend, das sich im nahen Barcelona konzentriert.

von Jascha Winking

Der Roman beginnt schablonenhaft: El Hachmis Hauptfigur – überdurchschnittlich intelligent, westlich geprägt und Männern nicht abgeneigt – ist der strikten Einflussnahme ihrer konservativen Mutter – kopftuchtragend, gottergeben und in Marokko tief verwurzelt – überdrüssig und entschließt sich eines morgens, aus Vic nach Barcelona zu fliehen, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Schon hier, zu Beginn des Romans, zeigt sich, wie fremd die berberisch-marokkanische Kultur der Protagonistin ist: Immer wieder sucht sie nach Ausdrücken aus der Sprache ihrer Mutter, findet sie aber nur auf Katalanisch. Es geht hier weniger um Sprachverlust – dem Berberischen war die Protagonistin sowieso nie wirklich mächtig – sondern vielmehr darum, von der eigenen Familiengeschichte durch Sprachmangel getrennt zu sein; der Verlust der historischen Wurzeln, gewissermaßen sogar der Identität. Andererseits: Kann jemand überhaupt eine Identität verlieren, die niemals die eigene gewesen ist?

Auf diesen ersten Seiten – und dieser Schachzug der Autorin ist brillant – meinen Leserin und Leser zu wissen, was geschehen wird: eine Rebellin, die sich allen traditionellen Konventionen entledigt und sich in einem sagenhaften Kraftakt ein modernes Großstadtleben aufbaut, fernab jeglicher Einschränkungen durch Familie und Tradition. Doch mitnichten. Denn statt der strahlenden Rebellin kreiert El Hachmi eine Antiheldin: Noch im Zug in die katalanische Hauptstadt wird die Protagonistin von Gewissensbissen geplagt und tritt die Rückfahrt an. Es ist eine Selbstaufgabe – und eine mit Folgen. Die junge Frau verwirft ihren Plan zu studieren, gibt das Lesen auf und heiratet sogar ihren marokkanischen Cousin. Als sie schließlich, auf Druck von Mann und Mutter, ein Kopftuch zu tragen beginnt, scheint die Flamme des liberalen Mädchens mit den feministischen Träumen endgültig erloschen zu sein. Sie fügt sich ihrem Schicksal, auch um ihrer Mutter das Leben zu erleichtern: Denn über eine junge, kopftuchtragende, verheiratete Frau könne sich schließlich kein Nachbar mehr den Mund zerreißen.

El Hachmi hat ein intelligentes Buch geschrieben, das keine Lebensweise über die andere stellt. Sie hat ein nuanciertes Buch geschrieben, das ohne Dogma oder Fanatismus auskommt. Vor allem aber hat sie ein Buch geschrieben, das der westlichen Gesellschaft helfen könnte, die generationalen Spannungen innerhalb der zugewanderten Familien zu verstehen und vor allem ihre eigenen Rassismen zu reflektieren. Denn die wegen des marokkanischen Nachnamens komplizierte Wohnungssuche, das ständige „Du sprichst schon so gut Katalanisch“ und die Vorurteile gegen Nordafrikaner im Allgemeinen scheinen die Protagonistin zur Aufgabe ihrer Träume gezwungen zu haben: Sie wird schließlich zu dem, was die Menschen sowieso schon immer in ihr gesehen hatten.

Alle Prophezeiungen haben sich erfüllt, die über mir dräuten wie über allen Töchtern der Marokkanerinnen hier. ‚Es lohnt sich eigentlich nicht, sie zur Schule zu schicken‘, hörte ich einmal jemanden sagen: ‚Sobald sie ein bisschen älter sind, werden sie in ihrem Land verheiratet, und zack, Kopftuch, Hausfrau, Kinder kriegen.‘ Aber die Leute, die so reden, denken nie an unsere Einsamkeit und bieten uns keine Alternative; wenn wir gegen unsere Familien aufbegehren, stellen sie uns keinen Ort zur Verfügung, an dem wir Zuflucht finden könnten.

El Hachmis Protagonistin findet schließlich doch noch ihren Zufluchtsort. Mit letzter Kraft erinnert sie sich an den Anfang des Romans, ihre vergessenen Träume und den Glanz des Lebens in Barcelona. Sie entscheidet sich für eine Welt, und gibt die andere auf. Entre dos tierras hat sich ein für alle Mal erledigt.

Der orlanda Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.