„Zunehmende Möglichkeiten der Kommunikation fördern zunehmende Isolation von Individuen“
von Lilian Engel
Im Rahmen der Wuppertaler Literatur Biennale las John von Düffels aus seinem neuen Roman Das Klassenbuch. Zwischen dem Autor und David Eisermann, der durch den Abend führte, entwickelte sich eine angeregter Dialog über neue Medien, fortschreitende Technologien und das ewige Thema des Generationenverhältnisses.
Nach einem herzlichen Willkommen und einer kurzen Einführung durch Professor Gerold Theobalt, Schauspieldirektor und leitender Dramaturg der Wuppertaler Bühnen, betraten Eisermann und von Düffel die Bühne, um sich sogleich dem Kern des Abends zu widmen, einleitend mit der Frage nach der Entstehung des Romans.
Bei einem Projekt des Pen-Clubs, bei dem Autoren mit Schulkindern Romane entwickelten, bemerkte von Düffel, dass Kinder und Jugendliche heute anders miteinander umgehen, als noch zu seiner Jugendzeit. Die „Zwangsgemeinschaft Klassenraum“ bedeutet in Zeiten von Smartphones und anderen Gadgets nicht mehr zwangsläufige Kommunikation von Individuen, im Gegenteil: Schüler haben immer weniger Gemeinsamkeiten miteinander, was es in diesem Projekt schwierig machte, eine gemeinsame Geschichte zu entwickeln.
Die mangelnden Gemeinsamkeiten, das Pochen auf Individualität sind es, was von Düffels Roman wiederspiegelt, ihre Widersprüche seine Inspiration, sie wie Protagonisten in einem Stück ihre Rollen spielen zu lassen. Er lässt neun verschiedene Schülerinnen und Schüler erzählen und bietet dabei Einblicke in ihr Seelenleben, ihre innere Zerrissenheit, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Ängste. Dabei, so betont der Autor, hat er nicht auf die Figuren geschaut, sondern sich in sie hinein gefühlt und aus ihnen heraus erzählt. Daher übernehme er auch nur „bedingte Haftung für die Texte, die die Figuren erzählen.“ Eisermann nennt den Roman treffend „ein Konzert von Stimmen und Monologen.“
Ob es John von Düffel tatsächlich gelungen ist, sich in 16-jährige Jungen und Mädchen hineinzuversetzen, muss der Leser wohl für sich selbst entscheiden. Es stellt sich die Frage, ob eine Schülerin der elften Klasse tatsächlich eine solch eloquente Schmähschrift –Systemkritik inklusive – hätte verfassen können, wie Emily sie an den Schul-Caterer schrieb, oder ob hier doch ein geübter Bühnenschreiber durchscheint. Keine Frage, die hier von John von Düffel vorgetragene Passage ist witzig und pointiert und so „schlucken wir das Lügenfrikassee“ und sind amüsiert.
Die aufgeworfenen Zweifel an der Authentizität dieser Jugendlichen werden im Gespräch Eisermanns und von Düffels aufgelockert. Die „Hybris der Jugend“ wird angesprochen, das Gefühl den dummen Alten überlegen zu sein, das gerade heute im Umgang mit den technischen Neuerungen ein nie zuvor dagewesenes Hoch erlebt. Als Erwachsenem droht einem immer die Gefahr, schnell überholt zu sein.
Von Düffel hat bewusst auf die Verwendung von Jugendsprache verzichtet, um den Jugendlichen eine innere Stimme zu geben, frei von Markern einer sozialen Gruppierung. An Stellen, an denen er sich doch zu „Jugendsprache“ hinreißen lässt, zum Beispiel als Hank in einer weiteren von von Düffel rezitierten Passage von der FuZo oder dem JuZe (Kurz für Fußgängerzone und Jugendzentrum, Anm. d. Red.) monologisiert. Sprechen Jugendliche heute noch so? Ist das nicht eine längst überholte Jugendsprache?
Besonderen Eindruck hinterließ die Frage nach dem Umgang mit Medien und technischem Fortschritt. Eisermann betonte zu Recht, dass Fortschritt immer harscher Kritik gegenüber stand, von Düffel, dass man neuen Entwicklungen heute kaum kritisch gegenüber stehen kann, ohne von außen einer festen Position zugeordnet zu werden. Dabei bietet die technische Entwicklung auch für die Bereiche Theater, Literatur und Kunst neue Möglichkeiten. Waren virtuelle Realitäten und Fiktion lange den Autoren vorbehalten, so kann sich diesen Raum nun jeder erobern, auch Jugendliche. Sie tragen Masken, spielen Rollen, schaffen alternative Realitäten.
Dass hier eben auch Gefahren liegen, betont von Düffel deutlich. Das Netz vergisst nicht, hier gibt es eben keinen Schutzraum, was die Fragen nach Datensicherheit, Mobbing und Stalking betrifft. Und die Kreativität im Netz sei immer begrenzt. „Die Grenzen von Produktion und Konsum verschwimmen“. Wo bei der Produktion eines Romans auch immer ein Produktionsanteil beim Leser liegt, entfällt er bei der Schaffung virtueller Realitäten. Die Fantasie des Rezipienten wird zu sehr bedient, zugestellt und lässt keinen Raum für Entfaltung.
Im Anschluss an die Lesung bot John von Düffel die Möglichkeit, sich seine Werke signieren zu lassen und ein paar Worte zu wechseln. Einige Denkanstöße nimmt man auf jeden Fall mit. Wohin wird die Digitalisierung führen? Wie gefährdet sind Jugendliche wohl, die sich digitale Realitäten schaffen? Werden Medienkompetenzen ausreichend ausgebildet und gefördert? Vielleicht gibt uns John von Düffel dazu in seinem nächsten Roman ein paar Antwortmöglichkeiten.