Elif Shafak – Schau mich an

Um dann den Blicken zu entgehen, von denen ich regelrecht eingekreist bin, und mir auch nicht vorstellen zu müssen, was die Leute über mich denken, suche ich mir irgendeinen Punkt, auf den ich bis zu meiner Haltestelle in aller Ruhe starren kann.

Gesehen werden und andere ansehen, ein wechselnder Prozess des Beobachtens und Beobachtet Werdens. So ergeht es der namenlosen Protagonistin in Elif Shafaks Roman Schau mich an, übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier und erschienen im Kein & Aber Verlag 2020. Die Protagonistin ist eine übergewichtige Person, welche die Blicke der anderen Menschen ständig auf sich spürt. Sie betrachtet alles um sich herum und fühlt sich unbehaglich. Sie versucht abzunehmen, hat aber nach langen Bemühungen aufgegeben. Ihren Hunger kann sie nicht stillen und verspürt immer wieder den Drang in jeder Situation zu essen, um sich wohler zu fühlen. Die einzige Person, die sie so annimmt wie sie ist, ist ihr kleinwüchsiger Freund BC.

von Anthoula Hatziioannou

Elif Shafak, geborene Elif Bilgin, ist eine renommierte Schriftstellerin, die ihren Master of Sciences in „Gender and Women’s Studies“ erhielt und ihre Promotion in Politikwissenschaft absolvierte. Sie lehrte an verschiedenen Universitäten in der Türkei, Großbritannien und der USA und engagiert sich politisch für Frauen- und Menschenrechte sowie die LGBTQ+-Gemeinschaft. Ihre Werke wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Ihr Roman Schau mich an aus dem Jahre 1999 ist eines ihrer früheren Bücher, welches sich mit einem immer noch hochaktuellen Thema befasst: wie die Blicke anderer Menschen das Leben einer Person beeinflussen können.

Die namenlose Protagonistin und ihr Freund BC sind ein recht ungleiches Paar. Sie ist groß und stabil, während er kleinwüchsig und normalgewichtig ist. BC ist eine sehr selbstbewusste Person und hat keine Angst davor Grenzen zu überschreiten und sich zu präsentieren. Er ist Model, fotografiert gerne und beobachtet seine Umgebung genau. Seine Freundin schämt sich für ihre fehlgeschlagenen Versuche abzunehmen und mag es nicht mit ihrem Freund gesehen zu werden, da sie ihre Privatsphäre wahren will und die abschätzigen Blicke anderer Menschen ausweichen will. BC versucht ihr klarzumachen, dass sie sich nicht für ihr Gewicht schämen muss und überredet sie mit ihm in Verkleidung rauszugehen. Sein Selbstbewusstsein färbt allerdings nicht auf die Protagonistin ab, welche versucht ihrer Meinung nach unangenehmen Situationen auszuweichen. Selbst eine einfache Taxi- und Busfahrt oder ein Kino- und Restaurantbesuch bereiten ihr extreme Angst, von anderen Menschen abwertend angeguckt zu werden.

Shafak erzählt im Roman allerdings nicht nur die Geschichte der Protagonistin und ihres Partners, sondern eine große Bandbreite an Geschehnissen aus anderen zeitlichen Epochen, die sich um die Themen des Gesehen Werdens und Andere Anschauens dreht. Während die Haupthandlung im Jahre 1999 in Istanbul und in der Gegenwart des Romans spielt, erinnern die anderen Geschichten an Schauermärchen, angefangen mit Sibirien im Jahre 1648, weiter nach Frankreich im Jahre 1868 bis hin zum Stadtteil Pera des ehemaligen Konstantinopels im Jahre 1885. Alle Handlungsstränge sind miteinander verbunden: In Sibirien entstand durch einen misslungenen Schamanenspruch ein unglaublich hässliches Mischwesen, halb Mensch und halb Tier. In Frankreich wiederum wurde ein wunderschönes Mädchen geboren und von ihrer Familie verstoßen. Hier macht Shafak die erste Verknüpfung dieser beiden Geschichten: Sowohl das hässliche Mischwesen als auch das wunderschöne Mädchen werden zu Attraktionszwecken in einem großen roten Zirkuszelt in Pera benutzt. Sie sind allerdings nicht die Einzigen, die zur Schau gestellt werden. Bevor das Mischwesen auf die Bühne tritt, werden andere makabre Gestalten den Zuschauern präsentiert: drei Schwestern mit jeweils einer, zwei und drei Brüsten, eine maskierte Frau mit Syphiliserkrankung und ein Schlangenbeschwörer. Während die ‚hässlichen‘ Attraktionen für die Augen der Frauen bestimmt waren, sollten die Männer des Osmanischen Reiches die schönsten Personen betrachten. Die drei wunderschönen Tänzerinnen sowie das zauberhafte Mädchen bilden das Gegenstück der drei hässlichen Schwestern und des unheimlichen Mischwesens. Der Besitzer dieser Attraktionen, Keramet Efendi, der wegen seines Erscheinungsbildes ein unglückliches Leben führt, wollte einerseits die Hässlichkeit und andererseits die Schönheit in Person zur Schau stellen.

Die Erzählungen, die in der Vergangenheit angesiedelt sind, haben alle eine dunkle Atmosphäre, die an Schauermärchen mit Zauberei, Aberglauben, Habgier und missgestalteten Wesen erinnert. Dies wird besonders durch die Sprache in den einzelnen Sequenzen erzeugt, da in allen Geschichten ein unheimliches Ereignis erzählt wird, welches das Schicksal der Figuren beeinflusst. Während in traditionellen Märchen ein happy end stattfindet, haben die Erzählungen in Schau mich an keinen Hoffnungsschimmer.

Dennoch weisen diese Erzählstränge Parallelen zu der Haupthandlung auf. BC verfasst auf seinem Computer ein „Lexikon der Blicke“, in dem die Geschichten dieser Charaktere fragmentarisch eingebaut werden. Dies ist auch die Besonderheit von Shafaks Roman: Alle Erzählungen knüpfen an die eigentliche Geschichte um die Protagonistin und BC an, da entweder durch das „Lexikon der Blicke“ oder eine alltägliche Situation immer wieder das zentrale Thema verdeutlicht wird, nämlich der Drang andere zu beobachten und mit sich selbst zu vergleichen, um das Gefühl zu haben, besser als der andere zu sein. Darin besteht auch die tiefergehende Message des Romans. Denn dieser Scan-Prozess und das Begaffen von und Urteilen über andere Menschen ist nicht erst im digitalen Zeitalter entstanden, sondern existiert bereits seit es Menschen gibt. Schau mich an ist ein gesellschaftskritischer Roman mit vielen interessanten Wendepunkten und Erzählperspektiven, die das Buch mehr als lesenswert machen.