Was, wenn das Ausland überall wäre? – Von Grenzerfahrungen und von der Grenze als Erfahrung

Foto: David Baltzer

Um Grenzen im Ganzen geht es im Theaterstück EXIL – eine europäische Erzählung von Nuran David Calis: Auf der Höhe blickt über die Grenzen Wuppertals hinaus und erkundet das Schauspiel Köln. Fazit: Es ist einen Ausflug wert!

von Marco Maffeis

Allein schon der Veranstaltungsort sagt viel über das provisorische Woanders-Sein aus: Das Stück wird im Depot 2 in Köln-Mülheim aufgeführt, denn die Hauptstätte von den Bühnen der Stadt Köln am zentralen Offenbachplatz kann seit 2012 wegen – immer länger andauernden – Umbauarbeiten nicht mehr bespielt werden. Seitdem befindet sich die Interimsspielstätte auf einem ehemaligen Industrieareal, dem sogenannten Carlswerk; das Schauspiel Köln ist so im rechtsrheinischen Exil. Das Ambiente ist vergleichbar mit dem Wuppertaler Theater am Engelsgarten: industrielles Flair ohne Prunk und Pracht, dafür eine einzigartige Atmosphäre eines Ortes, der unerwartet die Magie des Theaters erweckt.

Am Anfang öffnet sich kein Vorhang, denn es gibt keinen. Das Publikum hat schon die ganze Szenerie gesehen, sobald es den Raum betreten hat: Ein Rechteck aus (Plexi-?)Glaswänden, das an einen Käfig erinnert, außerhalb stehen drei Kameras und drei Bildschirme hängen über dem Käfig, die verschiedenen Ausschnitte der Bühne zeigen. Es besteht kein Zweifel: Digitalisierung wird hier großgeschrieben. Im Käfig befinden sich eine Schaukel, eine Sitzgelegenheit, wie sie in Flughäfen oder Warteräumen zu finden ist, davor viel Gepäck, in einer Ecke eine Küche mit Esstisch, in einer anderen ein abgetrennter, mit Dunst gefüllter Raum.

Das Stück beginnt. Drei Männer und zwei Frauen laufen in dem Käfig bis zu den durchsichtigen Scheiben. Sie erinnern an die Plexiglasscheiben, die in der Corona-Zeit omnipräsent waren und allmählich wieder verschwinden. Doch das Glas hat in diesem Fall vermutlich wenig mit der Pandemie zu tun. Vielmehr symbolisiert die Scheibe, gegen die die Protagonist*innen stoßen und von der sie in ihrer Bewegung aufgehalten werden, die europäische Außengrenze: Sie ist unsichtbar, aber da. Und sie trennt, sie sperrt ein und aus. Sie schafft ein Hier und Dort, ein Diesseits und ein Jenseits. An der Scheibe führen die fünf eine Strichliste, die die scheinbar unendliche Zeit des Wartens versinnbildlicht. Sie schreiben auch ihre Hoffnungen, ihre Erwartungen auf: „I love Europe“, „Peace“, „No war“ usw. Es entsteht der Eindruck, dass die Wunsch-Europäer*innen die EU mehr schätzen als manche EU-Bürger*innen selbst.

Der erste Teil handelt von Menschen auf der Flucht aus der Ukraine infolge des russischen Angriffes. Es wird teilweise Ukrainisch gesprochen: EXIL ermöglicht es, den Klang dieser Sprache zu hören. Sie wird nicht immer übersetzt; man möchte die Sprache verstehen, kann es aber nicht. Es geht um die Fragen: Gehen oder bleiben? Wie flüchten und wen zurücklassen? Für die Heimat kämpfen oder ins Exil gehen? Was würde ich tun, wenn mein Land zu den Waffen rufen würde? Abwechselnd zu Einzelszenen kommen Menschen an den drei Bildschirmen zu Wort, die eine Flucht erlebt haben und sich im Moment in Deutschland befinden. Manche berichten vom Gefühl der Sicherheit und von der Unterstützung seitens der EU. In Europa beweihräuchert man sich für die eigene „Willkommenskultur“.

Doch das war nicht immer und nicht für alle so: Die EU hat seit den ersten Tagen des Krieges angekündigt, die Außengrenzen stünden für die ukrainische Bevölkerung offen. Schnell verbreiteten sich die Nachrichten von Schwarzen Menschen, die von der Grenzpolizei aufgehalten worden sind, obwohl sie aus der Ukraine kamen und manche sogar den ukrainischen Pass besaßen. Die hoch gepriesene Willkommenskultur der EU galt nicht für Schwarze Menschen. Das Argument: Sie hätten nicht dieselbe „europäische Mentalität“ wie die Ukrainer*innen. Der eigentliche Grund: An den EU-Außengrenzen zählen weder Nationalität, Mentalität, Gründe für die Flucht noch Menschenrechte, wirksam wurde die rassistische Kategorisierung der Fliehenden in erwünschte und unerwünschte, willkommene und unwillkommene Migrant*innen. EXIL stellt die hochaktuelle Frage: Warum verlief die Migration von Menschen aus der Ukraine in der Regel reibungsloser als die von Menschen aus anderen Regionen der Welt?

Im zweiten Teil werden die Schicksale von Menschen auf der Flucht aus Afrika und dem Nahen Osten beleuchtet. Ihre Geschichten haben oft denselben Verlauf: Sie haben ihr Zuhause hinter sich gelassen, die Wüste überlebt, die libyschen Flüchtlingslager und lebensgefährliche Überfahrten im Mittelmeer überstanden, die sie außerdem horrende Summen gekostet haben, nun stranden sie in Europa und werden einer endlosen und mitleidlosen Bürokratie ausgeliefert. Sie dürfen nichts weiter tun als warten und warten, sie werden auf ein „Genehmigt“ oder „Abgelehnt“ reduziert, das Potenzial des einzelnen Menschen wird missachtet. Ihr Stellenwert in der Gesellschaft ist widersprüchlich: mal ignoriert, mal gefürchtet, teils als Sündenbock für jedes Übel abgestempelt, teils als billige Arbeitskräfte händeringend gesucht. Oft entwickelt sich ein Diskurs über Migrant*innen, in dem sie als „Problem“, als „Krise“ gesehen werden, allenfalls als ein Thema, wofür die Europäer*innen eine Lösung von oben herab oktroyieren müssen. Seltener werden sie als Protagonist*innen ihres Lebens dargestellt, fast nie wird ihnen eine Stimme gegeben.

EXIL will aber genau das tun: Menschen mit Migrationsgeschichte eine Stimme geben. Und so geschieht es; die Lichter gehen plötzlich aus, es erklingt nur das Anrufzeichen von Skype. Jemand fährt einen Wagen mit einem Laptop vor den Käfig, der Bildschirm ist zum Publikum gerichtet. Die fünf Figuren kommen aus dem Käfig heraus und beginnen einen Videoanruf. Am anderen Ende schalten sich zwei Menschen aus dem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos zu: ein Migrant aus Gaza und eine Vertreterin einer NGO aus der Schweiz. Das Gespräch ist nicht aufgenommen – es ist alles real, alles live. Die Frau erzählt: Im Flüchtlingslager wurde eine ‚Skill Factory‘ eingerichtet, um die Fähigkeiten jener Menschen, die sich dort momentan befinden, füreinander fruchtbar zu machen. Der Mann hatte in Gaza einen Handyreparatur-Laden, der bombardiert wurde. Ihm blieb keine andere Wahl als auszuwandern: Über Ägypten und die Türkei gelang er nach Samos, wo er jetzt seine Kompetenzen einbringen kann. Er würde gerne weiter nach Europa kommen. Sein Ziel? Egal welches Land, Hauptsache in Sicherheit.

EXIL stellt die verschiedenen Facetten des Phänomens Migration in Europa dar. Das Stück lädt zur Verfremdung und zur Identifikation ein – in gewisser Weise können die Scheiben auch als Spiegel gesehen werden, in denen sich das Publikum selbst sehen kann. Es bringt nicht zuletzt Themen auf die Bühne, die längst akzeptierte Normalität geworden zu sein scheinen: Krieg, Not, illegale Push-backs, Gewalt an den Grenzen. Es rüttelt uns wach, erinnert uns an die Absurdität, die viele Menschen erleben müssen, die heute auf der Flucht sind. Bewegend.

EXIL – eine europäische Erzählung wird noch im Februar und März im Depot 1 aufgeführt. Mehr Informationen finden sich hier.


Exil
Eine europäische Erzählung

von Nuran David Calis

Regie: Nuran David Calis
Bühne: Anne Ehrlich
Kostüme: Sophie Klenk-Wulff
Musik: Vivan Bhatti
Video & Interviews: Karnik Gregorian
Licht: Jan Steinfatt
Dolmetscherin: Anastasiia Krasovska
Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki