„Cartagena de Indias ist eine Stadt“, hat der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez – Gabo – gesagt, „die sie über vierhundert Jahre lang zerstören wollten und die heute, denke ich, lebendiger ist als je zuvor“. Von den Spaniern im 16. Jahrhundert zum wichtigsten Umschlagplatz Südamerikas für Gold, Silber oder Edelsteine gemacht, war die Stadt jahrhundertelang der wichtigste Seehafen der riesigen Kolonie – kein Wunder, dass das Piraten, Räuber und Gesindel jeglicher Art auf den Plan rief, in sie einzufallen. Um all jene abzuwehren, errichteten die Spanier – unter erzwungener Mithilfe zahlloser Sklaven – eine riesige, elf Kilometer lange Mauer, die heute die historische Altstadt umschließt, die noch immer ausschließlich aus wunderschönen, blumenbehangenen, gelb, blau, rot leuchtenden Kolonialhäusern besteht.
von Jascha Winking
Wer heutzutage nach Cartagena reist, muss sich vor Piraten nicht fürchten. Stattdessen steht den Reisenden eine Welt offen, die es in dieser Form nirgendwo mehr sonst auf der Welt zu sehen gibt: Eine Stadt, die noch aussieht wie zur spanischen Kolonialzeit. 2000 Polizisten sichern die Altstadt, um die herum sich das moderne Cartagena auftut, eine vibrierende, aber auch nicht ganz ungefährliche kolumbianische Großstadt, die sich dort draußen anfühlt wie eine ganz normale lateinamerikanische Hafenstadt. Drinnen aber – innerhalb der Mauern – haben die Stadtoberen ein Paradies bewahrt; an manchen Stellen noch ganz authentisch mit abbröckelndem Putz, oft aber auch piekfein hergerichtet für die zahllosen Touristen, die vor allem aus Nordamerika kommen. Genau hier lässt Nobelpreisträger García Márquez zwischen 1880 und 1930 seinen wunderbarsten Roman spielen, Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Wer ihn kurz vor der Reise nach Cartagena (wieder) liest, wird in der Stadt allenthalben auf Orte stoßen, die Gabo dort schriftlich verewigt hat; in diesem Meisterwerk, in dem sich der junge Telegrafist Florentino Ariza aus armen Verhältnissen in Fermina Daza verliebt, ein Mädchen aus gutem Hause.
Wer sich in Cartagena also auf die Suche nach den Roman-Schauplätzen macht, beginnt genau hier, am Elternhaus von Fermina, das García Márquez in den schönsten Teil der Altstadt versetzt, an den Parque Fernández de Madrid. In einem der bunten Kolonialhäuser an diesem baumbestandenen Platz verbringt Fermina Kindheit und Jugend und hier ist es auch, wo der junge Florentino nachts auftaucht, um unter ihrem Fenster Geige zu spielen. Es ist – gerade in den unsicheren Nächten der Jahrhundertwende – kein kurzer Weg (etwa fünfzehn Minuten) zurück zu Florentinos ärmlichem Wohnhaus an der wunderbar kühlen – und das ist bei ganzjährigen Temperaturen zwischen 30 und 40 Grad samt Luftfeuchtigkeit von 70 bis 95 Prozent nicht ganz unwichtig – Plaza Bolívar, die ein riesiges Monument zu Ehren des Befreiers ziert, der der Stadt – und dazu ganz Kolumbien, Venezuela, Panama, Peru, Ecuador und Bolivien – zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit von Spanien geschenkt hatte. Eines der schönsten Holzhäuser der Stadt findet sich heute hier, von dessen Veranda im zweiten Stock rote Bougainvilleas wie Blut zu Boden tropfen.

Nach einiger Zeit des Werbens gibt Fermina schließlich nach und verspricht Florentino, ihn zu heiraten. Das aber lässt Ferminas Vater nicht zu, der sich eine bessere Partie für seine Tochter wünscht und sie mit dem stadtbekannten Doktor Juvenal Urbino verkuppelt, den sie schließlich tatsächlich zum Mann nimmt. Diese Entscheidung teilt Fermina Florentino in einem knappen Satz im Trubel des Portal de los Dulces mit, einer noch heute etwas zwielichtigen Passage, an der damals wie nun Süßwaren verkauft werden und Florentino das Herz von seiner „gekrönten Göttin“ gebrochen wird. Statt eines Lebens mit dem armen Telegrafisten wird Fermina also ein Leben mit dem gutbetuchten Doktor Juvenal Urbino aufgezwungen. Nach der Hochzeit in der – besonders von außen – sehenswerten Kathedrale, ziehen die Frischvermählten in das Haus des Doktors, das im echten Leben dem reichen Sklavenhändler Marqués gehörte, heute aber nicht mehr mit der Schönheit anderer Gebäude der Stadt mithalten kann.

Während Fermina in das gutbürgerliche Leben eingeführt wird, kann Florentino seine große Liebe nicht vergessen. Um seine Gefühle irgendwie kontrollieren zu können, beginnt er, Liebesbriefe gegen Bezahlung zu schreiben, wofür er sich am Portal de los Escríbanos niederlässt. Hier verpackt er seine Liebe zu Fermina – und seinen Herzschmerz – in schöne Worte und schreibt Briefe für die zahlreichen Analphabeten der Stadt, die sie vor ihren Geliebten als die eigenen ausgeben. Noch heute gibt es diese Dienstleistung in Cartagena, sie ist allerdings nicht mehr am Portal des los Escríbanos zu haben, sondern ein Stückchen weiter, außerhalb der Stadtmauern, im rauen Parque de las Flores.

Weil Florentino diese Art der Katharsis aber anscheinend nicht genügt und er sogar Symptome der Cholera entwickelt – die sich als Symptome seines gebrochenen Herzens herausstellen –, wird er zum Schürzenjäger, betont dabei aber ausdrücklich, sich seine Jungfräulichkeit für Fermina aufzusparen. Eine seiner Geliebten – eine aus dem Irrenhaus entflohene Frau – lernt er bei einem Tanz auf der Plaza de la Aduana (direkt am Portal de los Dulces) kennen, ehe sie von ihren Bewachern eingefangen wird. Fast fünfzig Jahre ziehen ins Land; fünfzig Jahre, in denen Florentino auf den Tod des Doktors Juvenal Urbino wartet. In dem Moment, in dem die Glocken der Stadt dann tatsächlich das Ableben des Arztes verkünden – der bei der Jagd nach seinem entflogenen Papageien vom Baum gefallen war –, macht sich der mittlerweile alte und gebrechliche Florentino auf, Fermina seine letzten Aufwartungen zu machen. Die trauernde Witwe verjagt ihn zunächst, geht aber in den folgenden Monaten immer mehr auf seine Avancen ein, bis drei Jahre – und insgesamt „53 Jahre, sieben Monate und elf Tage“ – später endlich zueinanderfindet, was zueinander gehört. Die letzte Szene, in der Florentino den Kapitän des Dampfschiffes, auf dem er mit Fermina reist, die Cholera-Flagge hissen lässt, damit der Dampfer nirgendwo anlegen darf und die gemeinsame Zeit nicht zu Ende geht, gehört zu dem Berühmtesten, was die lateinamerikanische Literatur hervorgebracht hat. Wer nachempfinden will, wie sich diese unendliche Liebesflussfahrt nach ewigen Jahren des Wartens anfühlt, muss sich auf dem majestätischen, Kolumbien teilenden Río Magdalena Richtung Bogotá aufmachen – das dauert gerade einmal acht Tage; ist aber Stoff für einen anderen Text.

Was bleibt von García Márquez in Cartagena? Sein Wohnhaus, hermetisch durch eine orangefarbenen Wand abgeschirmt, mit Blick sowohl auf das karibische Meer als auch auf die Altstadt. Etwas besser zugänglich ist da die Gabo-Stiftung (Fundación Gabriel García Márquez para el Nuevo Periodismo Iberoamericano), die sich der Förderung eines neuen Journalismus’ verschrieben hat und diesen Idealen alle Ehre macht. Wie sollte es auch anders sein, in einer Stadt, in der García Márquez das journalistische Handwerk bei der Regionalzeitung El Universal (die Redaktion liegt direkt an der spanischen Befestigungsanlage Castillo de San Felipe de Barajas) erlernte und dort später erklärte, der Journalismus sei „der beste Beruf der Welt“? Wie auch immer; Cartagena ist eine wunderbare Stadt, die Gabo zu einem der besten lateinamerikanischen Romane aller Zeiten inspiriert hat. Und egal, wie oft innerhalb ihrer vierhundertjährigen Existenz auch versucht worden sein mag, sie zu zerstören – was Liebe und Cholera nicht schaffen, schafft keiner.
Weitere Informationen zum Roman gibt es in der vierten Folge des Literaturpodcasts „Poesie und Pappmaché“, in der er im Detail besprochen wird. Empfehlenswert ist die Verfilmung (ja, tatsächlich), zu der García Márquez’ wunderbare Freundin Shakira einen tief kolumbianischen Soundtrack beigesteuert hat.