Die Zeit zwischen den Jahren bietet sich geradezu dazu an, einmal innezuhalten und auf die vergangenen Monate zurückzublicken. In diesem Sinne möchten auch wir – wie bereits 2020 geschehen – einen kleinen, persönlichen Rückblick auf unser Lesejahr wagen und Einblicke in unsere Lektüren gewähren, die uns durch 2021 begleitet, begeistert und enttäuscht haben.
Die Redaktion wünscht allen Leser*innen einen guten Übergang ins neue Jahr. Möge es viel Gesundheit, gute Bücher und zahllose Theaterbesuche bescheren!
Jaschas Lesejahr:
2021 war das Jahr, in dem ich es zum ersten Mal geschafft habe, mindestens ein Buch pro Woche zu lesen. Angefangen hat alles mit 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel, einem an manchen Stellen beinahe surrealen Roman über Herkunft und Identität. Dem Jahr 2021 verdanke ich die Entdeckung zweier Bücher, die es direkt aufs Podium meiner Lieblingswerke geschafft haben: Nada von Carmen Laforet und Die Brücke vom Goldenen Horn von Emine Sevgi Özdamar. Ersteres handelt vom Leben einer jungen Studentin im Barcelona der Nachkriegszeit, in dem es von nächtlichen Verheißungen und blühendem Leben nur wimmelt, während sich im Hintergrund das ganz persönliche Drama einer großen Familie abspielt. Der zweite Roman beschreibt die Anstrengungen und Irrfahrten einer jungen Türkin, die sich in den 1960er-Jahren als Gastarbeiterin nach Berlin durchschlägt, sich kommunistischen Idealen hingibt und nach Istanbul zurückkehrt, um sich mit ihren Genossen im Restaurant „Kapitän“ zu treffen, wo die Wellen des Marmarameeres in warmen Nächten gegen die Wände schlagen und griechische Schallplatten im Mondschein treiben. Viel Aufmerksamkeit habe ich in diesem Jahr zweien der wichtigsten deutschen Intellektuellen des 21. Jahrhunderts gewidmet: Carolin Emckes Kriegsreportagen, versammelt in Von den Kriegen, beschreiben zwar eindrücklich die Erfahrungen einer Kriegsberichterstatterin mit beeindruckender Beobachtungsgabe, zeugen aber vor allem von Emckes Fähigkeit zu Empathie und Sensibilität. Roger Willemsen – vor kurzem leider viel zu früh von uns gegangen – lässt sich in Bangkok Noir mit allen Sinnen auf eine faszinierende Metropolis ein und beschreibt gewohnt sprachgewandt die Träume und Niederlagen der Menschen in Thailands Hauptstadt.
Nicht nur mit Großmeistern der deutschen, sondern auch der spanischen Sprache habe ich in diesem Jahr viel Zeit verbracht: Vom chilenischen Mythos Pablo Neruda las ich zuerst die Autobiografie Ich bekenne, ich habe gelebt (ein fantastisches Dokument über ein Leben zwischen den Kontinenten, aber stets mit Stift und Papier), danach seine hundert Liebessonette. Der zweite lateinamerikanische Maestro, der es 2021 in meine Leseliste geschafft hat, war der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der dem Sozialisten Neruda politisch zwar diametral entgegensteht, mit Worten aber ebenso gut umzugehen weiß. Sein Roman Harte Jahre beschreibt die faktischen Machenschaften der US-amerikanischen Außenpolitik in Guatemala unter dem Vorwand des Antikommunismus. Der dritte Koloss des südlichen amerikanischen Kontinents, den ich auch in diesem Jahr las, ist mein Lieblingsschriftsteller, der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Von ihm habe ich kürzlich zum zweiten Mal seine wunderbare Autobiografie Leben, um davon zu erzählen gelesen, in der er von seinen journalistischen und schriftstellerischen Anfängen und den ausschweifenden Nächten mit seinen Literaten-Freunden in der Schwüle der Karibikküste berichtet. Ebenfalls interessant: Fidel & Gabo von Angel Esteban und Stéphanie Panichelli, die sich auf den Weg gemacht haben, die legendäre Freundschaft zwischen García Márquez und Fidel Castro nachzurecherchieren. Noch keine lateinamerikanische Großmeisterin, aber auf dem Weg dahin ist Karina Sainz Borgo: Die Venezolanerin hat mit Nacht in Caracas ein beeindruckendes Debüt hin- und nun mit El Tercer País nachgelegt – ein bedrückender Roman über die venezolanische Migration nach Kolumbien, bisher allerdings nicht auf Deutsch verfügbar. Zum Abschluss noch zwei Bücher aus heimischen Gefilden, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, sich aber beide durch die Suche nach den perfekten Worten auszeichnen: Die schönsten Gedichte von Rainer Maria Rilke (in dem unglaubliche Verse vorkommen wie „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben“) und Sprache und Sein von Kübra Gümüşay (die uns einmal mehr dafür sensibilisiert, wie wichtig es ist, gefühlvoll mit unserer Sprache umzugehen). Ein aufregendes Jahr.

Laras Lesejahr:
Es ist wirklich erstaunlich, wie stark das eigene Leseverhalten von Jahr zu Jahr variiert. Nach diesem Disclaimer muss ich zugeben: Mengenmäßig war mein Lesejahr 2021 eher mau, ich habe nicht annähernd so viele Romane ‚geschafft‘, wie ich mir vorgenommen habe. Dafür hatte ich ein gutes Händchen bei der Auswahl der Lektüren, die (mit wenigen Ausnahmen) auf einem Spektrum von ‚gut‘ bis ‚absolut beeindruckend‘ einzuordnen sind. Hier ein (nicht erschöpfender) Einblick:
Anfangen möchte ich mit dem Roman, der mich in diesem Jahr am meisten enttäuscht hat; eventuell waren auch meine Erwartungen an ihn einfach zu hoch: Gemeint ist Eroberung des französischen Autors Laurent Binet. Die Prämisse – die Veränderung des Prozesses der Entdeckung des amerikanischen Kontinents – hört sich spannend an, allerdings konnte die Umsetzung mich persönlich nicht überzeugen. Das ist besonders schade, zählt doch Die siebte Sprachfunktion zu den Büchern, die ich am meisten schätze.
Gut gefiel mir den Roman, mit dem ich ins Jahr gestartet bin: Andreas Eschbachs Eines Menschen Flügel lädt in eine liebevoll konstruierte Fantasy/Science Fiction-Welt ein und nimmt sich Zeit, die Erzählstränge zu entfalten. Wer Interesse an mehr Details hat, kann meinen Ersteindruck des Romans hier nachlesen. Keine Neuerscheinungen, aber dennoch spannende Lektüren waren Philip K. Dicks dystopischer Science Fiction-Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? – zuerst erschienen 1968, diente später als Vorlage für den Film Blade Runner – und Martin Suters Die dunkle Seite des Mondes (2000), in dem der erfolgreiche Anwalt Blank Erfahrungen mit halluzinogenen Pilzen macht und daraufhin sein Leben radikal verändert. Im Rahmen der diesjährigen #Indiebookchallenge habe ich Lisa Kreißlers Roman Blitzbirke (2014) gelesen, der von den magischen Vorkommnissen im Autobahndorf Odinsgrund erzählt; die Rezension des Buches findet sich hier.
Mit Künstlicher und menschlicher Intelligenz beschäftigen sich die folgenden, sehr empfehlenswerten Romane: Raphaela Edelbauers DAVE – berechtigterweise mit dem Österreichischen Buchpreis 2021 ausgezeichnet – erzählt von dem Leben in einer Welt, die auf Optimierung ausgelegt ist und deren Ziel es ist, die technische Superintelligenz DAVE bis zur Vervollkommnung zu programmieren. Wie bereits in Edelbauers erstem Roman Das flüssige Land, spielt der Text mit den Leser*innen und erzeugt dadurch Ambiguität. Kazuo Ishiguros Klara und die Sonne stellt die sogenannte „Künstliche Freundin“ Klara in das Zentrum der Geschichte, die in einer nicht näher bezeichneten, dystopischen Zukunft angesiedelt ist. Besonders beeindruckend ist die ‚fremde‘ Perspektive, die die Leser*innen des Romans einnehmen.
Zu meinen persönlichen literarischen Highlights des Jahres zählen der Roman Die Anomalie des französischen Autors Hervé le Tellier und das Sachbuch Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen des britischen Biologen Merlin Sheldrake. Letzteres gewährt Einblicke in das Königreich der Pilze, ohne das unser menschliches Leben nicht denkbar wäre. Sheldrake paart wissenschaftliche Erkenntnisse mit Anekdoten aus seinem (Forscher-)Alltag, sodass beim Lesen weder Langeweile noch Überforderung aufkommt. Am meisten fasziniert zurückgelassen hat mich 2021 jedoch Die Anomalie: Ich möchte nicht zu viel verraten, denn einer der Reize des Romans liegt darin, ihn selbstständig zu erkunden – dies jedoch lohnt sich ungemein, denn das erzählte Gedankenspiel ist nicht nur spannend, sondern auch sprachlich großartig umgesetzt (und dank der Übersetzung von Romy und Jürgen Ritte auch in der deutschen Sprache zugänglich). Für das kommende Jahr wünsche ich mir definitiv mehr Romane dieses Kalibers!

Anthoulas Lesejahr:
Mein Lesejahr 2021 begann nicht sehr leseintensiv, da das Homeoffice meinen Alltag bis Ende März überschattete. Als die Tage aber gemütlicher wurden, kam auch meine Leselust wieder zurück. In der kleinen Buchhandlung um die Ecke besorgte ich mir als erstes neuen Lesevorrat. Mein erstes Buch war der innovative Krimithriller Paradise City von Zoë Beck, in dem es um die Mega-City Frankfurt geht. Die Menschen leben in einer digitalisierten, perfekten Scheinwelt, in der Soziale Medien zum Alltag gehören. Die Protagonistin Liina ist Journalistin und entdeckt mit ihren Kolleg*innen ein schreckliches Staatsgeheimnis. Becks zeitgemäßer Roman hat einen aktuellen Realitätsbezug zur Corona-Pandemie, da Themen wie Spaltung, Verschwörung, Überwachungsstaat und Genforschung geschickt eingearbeitet werden und die Spannung bis zum Ende des Buches bestehen bleibt.
Im Mai las ich dann parallel an zwei Büchern: Stephen Kings Der Nebel und den von Thomas Wörtche herausgegebenen Krimikurzgeschichtenband Berlin Noir. Kings kurzer Roman spielt in einem Vorort in der westlichen Region Maines am Abend des 19. Juli. Der Protagonist David lebt mit seiner Frau Steff und ihrem kleinen Sohn Billy in einem schönen, geräumigen Haus mit Garten; sie führen ein normales Leben. An diesem Tag bricht ein Sturm los und es kommt ein kalter Nebel aus dem See hervor, der die Umgebung langsam umhüllt. Trotz Davids böser Vorahnungen lässt er seine Frau Steff alleine zurück und fährt mit Billy und seinem launischen Nachbarn Norton zum Einkaufen in den Supermarkt. Das Unheil ist vorprogrammiert und hinterlässt am Ende des Romans einen bitteren Nachgeschmack für die Leser*innen.
Berlin Noir ist ein interessanter Kurzgeschichtenband mit jeweils 13 Originalgeschichten, die sich in unterschiedlichen Stadtvierteln in Berlin abspielen. Die einzelnen Erzählungen spiegeln auf unterschiedliche Art und Weise die Schattenseiten der Stadt Berlin. Da dieser Kurzgeschichtenband mich sehr fasziniert hat, habe ich mir nach einer Woche seinen Vorgänger Paris Noir bestellt, der die dunkle Seite des Verbrechens der sonst romantischen Hauptstadt Frankreichs enthüllt.
Ein weiteres tolles Buch, das ich diesen Sommer lesen durfte, war der Debütroman Das Ministerium der Träume von Hengameh Yaghoobifarah. Yaghoobifarah schrieb vor diesem Roman bereits frei für deutschsprachige Medien und versucht sich nun gekonnt am Genre Roman. Die Protagonistin Nas, die ein recht chaotisches Leben führt und nachts in einer Bar arbeitet, erfährt von der Polizei, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall verunglückt ist. Nas muss nun Verantwortung übernehmen und sich um ihre Nichte Parvin kümmern. Aber sie kann den Vorfall nicht ruhen lassen und will die Wahrheit über den Tod ihrer Schwester aufdecken. Die Handlung spielt zwischen der Vergangenheit, in der die Migrationsgeschichte der beiden Mädchen und ihrer dominanten alleinerziehenden Mutter erzählt wird, und der Gegenwart, in der Nas über die Geheimnisse ihrer Schwester stolpert und ihr Leben – für das Wohl ihrer Nichte – in den Griff bekommen muss.
Nach dieser sehr intensiven Lektüre widmete ich mich einem weiteren Buch, das ich von der Freundin meines Bruders erhielt: V. E. Schwabs englischsprachiger Roman The invisible Life of Addie LaRue. Addie, ein junges Mädchen voller Träume und Fantasien, lebt ein unbeschwertes Leben in einem kleinen französischen Dorf namens Villon. Sie möchte die Welt erkunden und viele neue Dinge erleben, aber ihre Eltern haben andere Pläne für sie und wollen sie mit einem Witwer verheiraten. Addie rennt kurz vor ihrer Hochzeit verzweifelt weg in einem dunklen Wald außerhalb des Dorfs und wünscht sich, frei zu sein. Ein böser Gott erhört ihre Bitte und schlägt ihr einen Tausch vor: ein freies, unendliches Leben für ihre Seele. Addie willigt ein, doch die Sache hat einen Haken: Niemand erinnert sich fortan an sie und Addie lebt ein einsames Leben ohne Freunde oder Familie. 300 Jahre später trifft sie jedoch auf Henry Strauss in New York, der sich an sie erinnert. Dieses Buch hat mich über den Herbst begleitet und hat mich bis zum Ende nicht enttäuscht, aber es sollte nicht das letzte gelesene Buch für 2021 sein.
Im November entdeckte ich durch verschiedene Instagram-Posts Elif Shafraks neuesten Roman Das Flüstern der Feigenbäume. Es handelt sich hierbei um einen sehr emotionalen und einfühlsamen Roman, der in den Jahren 1974 und 2000 in Zypern und Ende der 2010er Jahre in London spielt. Zu Zeiten des Bürgerkrieges in Zypern verliebte sich der griechische Tavernenbesitzer Kostas in die türkischstämmige Frau Defne. Aus dieser verbotenen Liebe entstand ihre gemeinsame Tochter Ada, die ihre Mutter niemals kennenlernen durfte. Das 16-jährige Mädchen lebt mit ihrem Vater in London und versucht herauszufinden, was mit ihrer Mutter geschehen ist. Der Roman schildert die grausamen Geschehnisse rund um ein sehr sensibles Thema der Geschichte Zyperns, die verzweifelte Suche nach den Wurzeln einer jungen Frau, eine verbotene Liebe, die Auswanderung und den Wiederaufbau eines vermeintlich neuen Lebens.
Da das Jahr 2021 sich nun dem Ende nähert, wünsche ich mir, dass das Jahr 2022 mit vielen weiteren schönen Erinnerungen und tollen neuen Büchern auf uns zukommt!
Wiebkes Lesejahr:
Obwohl ich – bedingt durch die vielen Corona Einschränkungen, die auch einen Großteil des vergangenen Jahres prägten – eigentlich über viel Zeit zum Lesen verfügt haben sollte, erscheint mir der Rückblick auf mein Lesejahr doch eher dünn.
Zu Beginn des Jahres habe ich mich viel und sehr intensiv mit Emma Braslavskys Die Nacht was bleich, die Lichter blinkten beschäftigt. Die Thematik der Künstlichen Intelligenz hat mich seitdem auch nicht mehr wirklich losgelassen. Es folgte Artur Dziuks Das Ting, das einen sehr realistischen und zugleich sehr unheimlich Einblick in eine mögliche Zukunft bietet. An Raphaela Edelbauers Roman Dave – auch hier steht die KI-Thematik im Vordergrund – hatte ich einige Zeit zu knabbern. Ich habe das Buch wiederholt für ein paar Tage weggelegt und war am Ende doch so gefesselt, dass ich immer weiterlesen musste. Ganz im Gegenteil zum Roman Klara und die Sonne von Kazuo Ishiguru, den ich quasi an einem Stück gelesen habe. Nicht in der KI-Thematik angesiedelt, aber dennoch mit Science Fiction Elementen versehen, ist der Roman Die Anomalie von Hervé Le Tellier, der mit jedem neuen Kapitel auch neue Spannung aufbaut. Zwei thematische Ausreißer gab es mit dem Indie-Roman Sphinx von Anne Garréta (alleine dadurch interessant, dass im Verlaufe der Handlung nicht deutlich wird, ob es sich bei den beiden Protagonist*innen um Mann oder Frau handelt) und mit Benedict Wells Roman Hard Land.
Was von 2021 übrig bleibt, sind eine Menge angefangener Bücher, die immer wieder beiseite gelegt und doch wieder angefangen, aber nie wirklich zu Ende gelesen wurden. Vielleicht bietet 2022 ja die Gelegenheit, diese Lektüren zu beenden.