Ein Roman – drei Leser*innen. Hier zeigt sich, dass für jede*n andere Aspekte in der Erinnerung hängen bleiben, andere Facetten priorisiert und persönliche Urteile gefällt werden. Aber auch, dass es bei aller Vielfalt Übereinstimmungen geben kann.
Thomas Hettche – Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
von Christina Marinidis
Ein geschrumpftes Mädchen, ein bedrohlicher Kasper, der Geist der Hannelore Oehmichen und ein iPhone treffen auf einem Dachboden voller bekannter Persönlichkeiten aus der Augsburger Puppenkiste zusammen und lernen etwas über Vergangenheit und Gegenwart.
Wo gibt’s denn so was? Die Antwort lautet: in Thomas Hettches Roman Herzfaden.
Schon beim ersten Blick aufs Buch merken wir: Hier steckt mehr drin, als man zunächst denkt. Der blaue Schutzumschlag umhüllt den roten Buchdeckel und bereitet den Leser auf das Farbenspiel vor, das uns im Buch erwartet. Der Roman ist durch rote wie blaue Erzählteile in zwei verschiedene Handlungsstränge unterteilt, die leider auch von unterschiedlicher Qualität sind. Während wir in den blauen Erzählteilen einen Einblick in Hannelore Oehmichens (Hatüs) Kindheit zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und ihrer Entwicklung in der Nachkriegszeit bekommen, beschreiben die roten Passagen das Handlungsgeschehen im Hier und Jetzt und da sollte sich der Leser, der einen historischen Roman erwartet, gut anschnallen, denn nun beginnt eine wilde Fahrt.
Vom Mädchen wissen wir nichts weiter, als dass sie ihren Vater besucht und mit ihm ein Puppentheater angeschaut hat, für das sie ihrer Meinung nach zu alt sei. Einen Namen erfahren wir nicht und so bleibt uns das Mädchen das ganze Buch über fremd. Es ist schwer zu diesem namenlosen und naseweisen Mädchen eine Sympathie aufzubauen, auch wenn dieses als moderne moralische Instanz Ausdrücke aus Hatüs Zeit kritisiert und hinterfragt. Als würde dieser Umstand das Lesen der roten Seiten nicht schon genug erschweren, geschehen um das Mädchen herum lauter fantastischer Dinge, die zwar großes Potenzial aufweisen, am Ende jedoch immer nur ein kleiner Funken bleiben, statt ein großes Feuerwerk zu entzünden und lediglich für Fragezeichen im Gesicht der Leser sorgen. Es ist nicht nur der abfallende Schreibstil, dem die roten Seiten aufgrund der darin erzeugten kindlichen Naivität unterliegen, sondern auch die wirklich skurrilen bis kaum erklärbaren Handlungen, die das Mädchen ausführt. Es steht einer Gefahr gegenüber, die Lage ist angespannt, man erwartet Großes, doch dann schläft das Mädchen einfach ein und die Erzählung wechselt zum blauen Teil. »Sade«, wie das Urmel aus dem Eis sagen würde, aber man verzeiht es dem Buch gerne, denn auf den blauen Seiten erwartet uns einiges mehr.
Dort verfolgen wir Hatüs Lebensgeschichte, die sie dem Mädchen berichtet. Die Erzählung beginnt bei ihrer Kindheit und setzt den Fokus unmittelbar auf die Gründung der Augsburger Puppenkiste. Der Krieg, in dem Hatüs Leben stattfindet, scheint häufig zweitrangig zu werden. Die Beschreibungen der Kriegserlebnisse sind häufig blass, wenig emotional und oft sehr distanziert erzählt. Es ist so, als würde man durch einen Vorhang auf das Kriegsgeschehen blicken. Uns wird schnell bewusst: Dies war Hatüs Alltag. Eine Macht der Gewohnheit hat sich eingestellt, die den Schrecken abgedämpft hat und mit dem Puppentheater kam etwas, das das Grausame mit Freude überdeckt hat. Das Puppentheater eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen. Wie ein Märchen oder eine Gute-Nacht-Geschichte wirkt die sanft gestaltete Erzählung und dennoch schafft Hettche es, den grausamen Hintergrund nicht zu verwischen. Auch lernen wir einen ganz bestimmten Schatten aus Hatüs Lebenszeit kennen, der selbst ihren Geist noch in Angst und Schrecken versetzt. Schließlich scheint das Mädchen der Schlüssel zur Lösung dieses Problems zu sein, doch wie das geschieht und was das oft erwähnte iPhone damit zu tun hat, muss der Leser selbst herausfinden.
Thomas Hettche unternimmt mit Herzfaden einen interessanten Versuch, die Erfahrungen aus Gegenwart und Vergangenheit über das Motiv des Puppentheaters miteinander zu vereinen. Mit den lustigen Gesellen der Augsburger Puppenkiste stellt Hettche eine Verbindung zu uns Lesern her und spinnt hier einen ganz eigenen Herzfaden, weshalb das Buch den Untertitel Roman der Augsburger Puppenkiste mehr als verdient hat. Aus welchem Grund er dafür aber die roten Passagen des Mädchens so fragwürdig gestaltet, bleibt jedoch im Dunkeln. Hier ist es am Leser zu entscheiden, wie er mit den Erzählungen über das Mädchen umgehen mag.
Eines ist klar: Das Buch birgt einiges an Diskussionsmaterial und bleibt im Gedächtnis. Wer sich auf eine märchenhafte Reise in eine ernste Vergangenheit begeben möchte, ist dazu angehalten, Thomas Hettches Herzfaden zu lesen.
Marionetten, die besseren Menschen
von Victoria Emilia Galowy
Herzfaden ist ein Roman, der sich in zwei parallele Erzählstränge aufteilt, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. In der Binnengeschichte begleiten wir Hannelore Oehmichen, die Hannelore Oehmichen, Tochter des Erfinders der Augsburger Puppenkiste. Hettche zeigt die Ursprünge der berühmten Marionettenwelt, aber auch den harten Alltag der nazionalsozialistischen (Nach-)kriegszeit. Schuldgefühle, die sich in Form des hässlich grinsenden Kasperls manifestieren, verbinden Binnen- und Rahmengeschichte miteinander.
Im zweiten, äußeren Erzählstrang trifft die zwölfjährige, namenlose Protagonistin à la Alice im Wunderland auf Urmel, Kalle Wirsch und Prinzessin Li Si; sprechende Marionetten, auf deren Größe das Mädchen schrumpft. In einem geheimen Dachboden beginnt ein langer Dialog zwischen den Anwesenden, darunter auch die mittlerweile verstorbene Hannelore, „Hatü“, im cremefarbenden Kleid und Zigarette rauchend.
Ein ständiger Wechsel zwischen Hatüs Kriegsalltag, in dem sie auf Kinder trifft, „mager und kahlgeschoren die meisten, […] in Wolldecken, aus denen ihre Gesichter greisenhaft hervorlugen“ und der modernen Welt des jungen Mädchens, dieses, wütend über die Trennung ihrer Eltern.
Hannelore Oehmichen schnitzte in ihrem Leben über 6000 Marionetten und übernahm 1972 die Puppenkiste ihres Vaters. Hettche beschreibt, wie alles anfing, von den ersten Puppen, die Walter Oehmichen schnitzte, um ein wenig Licht ins dunkle Nachkriegsdeutschland zu bringen. Seine Marionetten haben etwas Besonderes an sich, denn der „Herzfaden“ hauche ihnen Leben ein.
Die blauen Seiten der Binnengeschichte sprechen von Nähe: Nackte Ehrlichkeit, wenn Hatü ihre ersten romantischen Erfahrungen macht, aber auch wenn sie nicht weiß, wie sie Vroni trösten soll, die ihre Eltern bei einem Bombenanschlag verliert oder nach ihrer jüdischen Klassenkameradin Bernadette sucht.
„Sie ist in Sicherheit. In Amerika, mit ihren Eltern.“
Damit kontrastiert die zweite Erzählung, in roter Tinte, zu sehr. Auch wenn sich innerhalb dieser der innere Konflikt Hatüs offenbart – ihre Schuldgefühle gegenüber der unbewussten Übernahme von rassistischer Propaganda – ist die eigentliche Handlung der Rahmenerzählung zu absurd. Ein Raub des vielfach erwähnten und dem Kind heiligen „iPhones“, die Magie, die es dem Kasperl verleiht, um zu enormer Größe zu wachsen oder wie er die Marionette Jim Knopf fallen lässt, der daraufhin „auf den Boden plumpste“. Möglicherweise wurde hier versucht, mit kindlichem Witz eine gewisse Nähe zum Augsburger Puppentheater herzustellen, wie auch die Binnengeschichte von Hatüs Kriegserfahrung ebenfalls aus direkter Nähe berichtet. Neben den ernsten Themen wirkt die Rahmenhandlung jedoch zu sehr bemüht und dadurch steif, womöglich war dies aber auch vom Autor bewusst gesetzt.
Hettche gelingt es, den kulturellen Wert der Augsburger Puppenkiste in der Nachkriegszeit vor Augen zu führen. Schade, dass die bemerkenswerte Binnenerzählung fortlaufend von der Rahmenhandlung unterbrochen wird.
Ein tiefer Griff in die Augsburger Puppenkiste
von Sebastian Milkereit
Rote und blaue Schrift, wie in Die Unendliche Geschichte? Eine kleine Lokomotive, die ohne Schienen durch die Landschaft fährt? Schon beim ersten Durchblättern werden die Bezüge zu dem Werk Michael Endes überdeutlich. Doch was ist das für ein Buch, dem Autor Thomas Hettche selbstbewusst den Untertitel Roman der Augsburger Puppenkiste gegeben hat? Wohlgemerkt, nicht ein Roman über oder zur Augsburger Puppenkiste; der Roman versteht sich als „Der Roman der Augsburger Puppenkiste“. Es handelt sich gewissermaßen um einen Wechsel aus historischem Roman und einer fantastischen Kindergeschichte (fantastisch im Sinne von Fantasy – doch dazu später mehr). Der historische Teil des Romans (blauer Text) erzählt die Entstehungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste aus der Sicht von Hatü Oehmichen, der Tochter des Gründers Walter Oehmichen.
Anschaulich und lebendig werden sowohl Zauber des Puppenspiels als auch die Schrecken des Krieges und der Beschwerlichkeiten der Nachkriegszeit erzählt. Äußerst kurzweilig zu lesen, manchmal vielleicht etwas zu unkritisch mit der Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Ein gut geschriebener historischer Roman wäre dieses Werk, wäre da nicht die immer wieder eingeschaltete fantastische Kindergeschichte (roter Text). Die Protagonistin dieses Erzählfadens bleibt durchweg fremd und unsympathisch. Keinen Namen kriegt das Mädchen, das sich auf den Speicher der Augsburger Puppenkiste verirrt, auf dem Weg dorthin immer weiter schrumpft und schließlich den lebendig gewordenen Puppenklassikern aus dem umfangreichen Repertoire der Augsburger Puppenkiste begegnet. Urmel, Jim Knopf, Prinzessin Li Si, der kleine Prinz etc. Mit unter ihnen ist der ketterauchende Geist Hatü Oehmichens, der dem Mädchen seine Geschichte
erzählt.
Der große Antagonist ist hier der durchaus brutal und übergriffig agierende Kasper, der das iPhone des Mädchens klaut und damit Nachrichten in alle Welt verbreiten will. Leider ist die Geschichte gespickt mit Unstimmigkeiten. So entschließt sich das Mädchen mitten in einer aufregenden Situation, sich auf den Boden zu legen und zu schlafen. Nicht unbedingt nachvollziehbar! Immer wieder beschleicht einen das Gefühl, Hettche versucht hier eine Geschichte im Duktus und der kindlichen Unbeschwertheit Michael Endes zu erschaffen. Nur merkt man immer wieder, dass eben das nicht forcierbar ist. Es scheint fast, als versuche der Autor, seinen Roman als zukünftige Schullektüre anzubiedern. Zweiter Weltkrieg, eine kindgerechte fantastische Erzählung, Bezüge zur Lebensrealität heutiger Kinder (iPhone, Scheidungskind) und eine klare, direkte Sprache. Das Werk scheint geradezu konstruiert, um kartonweise in sechste und siebte Klassen geliefert zu werden. Doch allein der historische Romanteil macht das Buch lesenswert. Jeder rote Buchstabe
kann getrost übersprungen werden.
Diese Texte sind im Rahmen des Begleitseminars zum Kolloquium Literarische Neuerscheinungen im Wintersemester 2020/ 2021 entstanden.