Selten sind sich alle Lesenden eines Buches in der Beurteilung einig. Wie unterschiedlich Leseerfahrungen und Meinungen sein können, zeigt der folgende Beitrag, in dem mehrere Rezensionen zu einem Roman gemeinsam präsentiert werden. Denn nicht nur Schönheit liegt im Auge der*s Betrachter*in.
Staub in den Kehlen
von Victoria Emilia Galowy
„Die Großeltern nahmen die Lebensgeschichten und Kinderfragen und Erwachsenenantworten mit in ihr Grab, lagen mit ihrem Schicksal in der Erde, aber ihre Schatten ließen sie zurück.“
Valerie Fritsch erzählt eine Generationengeschichte, in der Schweigen und Schmerz der Familientradition angehören.
Der Schmerz trifft zunächst auf die Großeltern: Mit zwei Zehen weniger und dafür einer ihn stets umgebenden, chronischen Kälte kehrt Almas Großvater zurück. Das Kriegstrauma löst ein end- und trostloses Schweigen aus, dass erst nach Jahren gebrochen werden kann. Almas Mutter wird als „eine Vakuumkranke“ beschrieben, die Protagonistin selbst leidet im Erwachsenenalter an einer postnatalen Depression. Es gibt keine netten Worte für niemanden, keinen Trost. Die einzige Emotion, die in dieser Familie nicht versteckt werden kann, ist der blanke Schmerz.
Als Almas Sohn Emil geboren wird, ist schnell klar: Er passt nicht in diese Welt, denn er ist schmerzlos. Fleißig versucht er sich zu integrieren, lernt Schmerzskalen auswendig, als wären sie Vokabeln einer Fremdsprache. Es gibt keine angeborene Empfindung, Emil versteht nicht, dass körperliche Experimente und Mutproben gefährlich sind:
„Und er stieß sich, um die größeren Mädchen und Buben der Siedlung zu beeindrucken, einen Kugelschreiber so fest in den Oberarm, dass er im Fleisch stecken blieb.“
Es ist die Demenz der Großmutter, die inneren Blockaden lösend, die Alma nach Jahren voll emotionsloser Distanz und Vertuschung die Wahrheit eröffnet.
„Der Krieg der Großmutter klang anders als der, von dem zu Hause hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden war.“
Alma versucht daraufhin, die Lücken und Fragen in ihrer Familiengeschichte zu schließen und begibt sich auf eine Reise nach Kasachstan, um dem Ursprung des Schmerzes auf den Grund zu gehen.
Die Verknüpfung von Körperlichkeit und dem seelischen Empfinden ist eine grandiose Metapher, die Fritsch für die Verdeutlichung von Trauma und Schmerz verwendet. Schmerz repräsentiert hier nicht nur die Emotion Trauer, sondern auch Empathievermögen und Moral. Wie könnte jemand, der es nicht selbst miterlebt hat, den Schmerz des Großvaters verstehen:
„[N]achts sah er die Schreienden vor sich mit Mündern voll Erde, sah sie rufen mit Staub in den Kehlen und sah die Kieselsteine ihre Speiseröhre hinabrieseln.“
Emil wächst ohne Schmerz auf – eine neue Generation, fernab von jeglichen Kriegstraumata, wie könnten sie etwas dergleichen nachempfinden?
Fritsch arbeitet mit ausführlichen Beschreibungen, die aber um das Wesentliche nur herumschweifen. Genau wie ihre Figuren, umschifft die Erzählerstimme die Wahrheit und nimmt damit eine deutliche Präsenz innerhalb der Personenwelt ein. Keine direkte Rede; die Figuren sind nicht in der Lage dazu, denn der Erzähler legt seine Stimme wie einen dumpfen Schleier über sie.
Emils Alltag widmet sich einer Entdeckungsreise des Schmerzes, während sein Urgroßvater diesen immer weiter in sich vergräbt. Und trotz der Unterschiede haben sie doch etwas gemein: Sie werden beide mit künstlichen Metallplatten und Schrauben in ihrem Körper zusammengehalten.
Herzklappen von Johnson & Johnson ist letztlich keine klassische Generationenerzählung und arbeitet auch kein klar definiertes Thema aus. So distanziert, wie die Figuren unter sich, so distanziert bleibt der Leser, denn anstatt uns an die Figurenwelt anzunähern, hält sie der Erzähler als Teil dieser von uns fern.
Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson
von Christina Marinidis
Die 1989 geborene Autorin Valerie Fritsch lebt in Graz und ist neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin zusätzlich als Fotografin tätig. Dies und Valerie Fritschs Reiselust, wirken sich auf ihr schriftstellerisches Schaffen aus. Gemeinsam mit ihrer Mutter, die ebenfalls als Schriftstellerin tätig war, veröffentlichte Valerie Fritsch 2015 einen Lyrikband mit dem Titel kinder der unschärfterelation. Sie erhielt 2015 den Kelag-Preis sowie den Publikumspreis. Mit Winters Garten schrieb sie ihren Debütroman, der 2015 für den deutschen Buchpreis nominiert war. Herzklappen von Johnson & Johnson ist aktuell ihr jüngstes Buch.
„Wo ist denn nun das Kind?“ Eine Frage, die wir uns unwillkürlich nach den ersten zwanzig, dreißig, vierzig Seiten stellen und auch nach über sechzig Seiten noch auf eine Antwort warten. Erst auf Seite neunzig wird das Kind geboren, um das es – wenn man dem Klappentext Glauben schenkt – in diesem fröhlich rosa gestalteten Buch gehen soll. Der Klappentext verspricht uns eine Geschichte um ein Kind, das nicht fähig ist, Schmerz zu spüren und um die damit einhergehenden Sorgen einer Mutter. Doch der Klappentext scheint uns an der Nase herumzuführen. Wir finden uns voller Erwartung in einer völlig anderen Geschichte wieder, als wir es vermutet hatten. Wir treffen auf Alma, die später (viel später) die Mutter Emils wird, müssen uns jedoch zunächst durch langatmige Schilderungen ihrer Kindheit in ihrer eigenen Familie kämpfen. Außerdem sind da noch die Stereotypen pingelige Mutter mit Putzfimmel, in Schweigen gehüllter Großvater und die erzählfreudige Großmutter, die Einzige im Haus, die die über allem liegende Stille bricht. Eine gewisse Stille wohnt auch dem Buch inne. An keiner Stelle kommt es zur wörtlichen Rede, sondern lediglich zu langen Aneinanderreihungen von Beschreibungen, die hauptsächlich auf Almas Analysen, den Schmerz innerhalb ihrer Familie zu verstehen, angelegt sind. Wird dann schließlich Emil geboren, ist schnell klar: Durch einen Gendefekt funktionieren seine Schmerzrezeptoren nicht. Wunderbar – damit hat der Klappentext uns ja gelockt! Dem Jungen muss nun mit Hilfe von Sprache beigebracht werden, was Schmerz bedeutet. Etwas, das vor allem der Großvater versucht, durch Schweigen zu verdrängen. Die Ambivalenz von der Schmerzlosigkeit des Kindes und dem Schmerzerleiden der Großeltern, die geprägt vom Zweiten Weltkrieg sind, bildet den Kern der Erzählung. Allerdings – und daraus ergibt sich ein großer Schwachpunkt des Buches – konkretisiert Valerie Fritsch ihre Motive zu wenig. Die Frage, worum es nun genau geht, was das zentrale Motiv des Buchs bildet, gestaltet sich genauso schwierig zu beantworten, wie es schwierig scheint, den roten Faden und den Anschluss nicht zu verlieren. Ein Eintauchen in einen Lesefluss ist durch die nicht konkretisierten Beobachtungen und nur vage benannten Dinge stark behindert. Klar ist: Das Thema ist Schmerz und der Umgang damit, aber auch Generationenkonflikte und die Weitergabe von Erfahrungen und zudem das Verhältnis von Beobachten und Selbsterfahrungen, aber gänzlich fassen lässt sich das zentrale Thema des Romans leider nicht. Die bewegenden Stellen, die etwas mit dem Leser machen, wenn zum Beispiel detailliert vom Kriegsgeschehen erzählt wird, gehen leider ebenfalls im Strom von Stille, Vagheit und Distanz unter.
Etwa Absicht? Sind wir selbst nicht mehr fähig, den Schmerz der alten Generation nachzuempfinden? Hält uns Fritsch mit ihrem Buch einen Spiegel vor die Nase? Möglicherweise demonstriert uns das Buch ein Stück weit, dass wir zwar Mitgefühl aufbringen können, aber niemals die große Verletzlichkeit nachempfinden können, die auf Menschen mit Kriegserfahrungen lastet.
So oder so: Herzklappen von Johnson & Johnson hält nicht das, was es verspricht. Wer sich auf ein – so muss man leider sagen – monotones Buch einlassen möchte, vielleicht auch als Experiment zur Erforschung des eignen Schmerzempfindens, kann sich Valerie Fritschs Werk vornehmen, sollte jedoch Geduld mitbringen, denn was bei Winters Garten einwandfrei funktioniert hat, macht Herzklappen von Johnson & Johnson schleppend. Ihr Schreibstil und ihre Kunst mit Worten zu malen sind in beiden Romanen hoch einzuordnen und es erstaunt sogar, dass jedes ihrer Worte in Winters Garten für fein nuancierte Gefühlsregungen beim Leser sorgt, hier jedoch nur für Unverständnis und Langatmigkeit. Teilweise wirken ihre Beschreibungen in Herzklappen von Johnson & Johnson zu schwer, zu träge und zäh. „Es war ein Applaus mit einem kleinen Tod zwischen den Handflächen“ – So wird das Klatschen des Großvaters nach den Fliegen beschrieben.
Wenngleich Winters Garten ein noch deutlich düsteres und dystopischeres Buch ist, Herzklappen von Johnson & Johnson ist einfach nicht mitreißend. Möglicherweise bedarf es dafür jedoch einfach der Stimmung, die in Zeiten einer Pandemie schwer aufzubringen ist. Wer Zeit und Muße hat, kann einen Versuch wagen. Wer auf der Suche nach einem mitreißenden Buch ist, lässt es lieber.
Die Texte sind im Rahmen des Begleitseminars zum Kolloquium Literarische Neuerscheinungen im Wintersemester 2020/2021 entstanden.