Thomas Wörtche (Hg.) – Berlin Noir

In Berlin Noir (erschienen 2018 im culturbooks Verlag), dem zweiten Band der erfolgreichen Noir-Reihe, die im Jahre 2014 mit Paris Noir startete, wird in 13 Originalgeschichten anhand 13 unterschiedlicher Stadtviertel die dunkle Seite des Verbrechens der Hauptstadt Deutschlands offenbart. Die Auswahl der kurzen Krimierzählungen stellt Thomas Wörtche, angesehener Kritiker, Literaturwissenschaftler und Publizist, zusammen. Preisgekrönte Autor*innen wie Zoë Beck, Ulrich Woelk und Matthias Wittekindt geben dem Genre der Crime Fiction und der Berliner Kriminalliteratur einen neuen, spannenden Blickwinkel.

von Anthoula Hatziioannou

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt: „Metropolenstress“, „Großstadtleben“, „Cops & Gangster“ und „Berliner Milieus“. Den Start macht Zoë Becks Geschichte Dora,die von einer jungen, wohlhabenden Frau handelt, welche als Obdachlose im Bahnhof Zoo herumgeistert.


[I]ch gab ihr eine von ihren Tabletten und sagte, sie müsse sie nehmen, um sich gegen die Nazis zu schützen. […] Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis die Stimmen in ihrem Kopf still waren, und ein paar Tage, bis sie stabil war.

Ihre Brüder bemerken zunächst nicht, dass sich der mentale Zustand ihrer Schwester nach einer Südamerikareise verändert und scheitern an dem Versuch, ihr zu helfen.

Die zweite Geschichte Ich sehe was, was du nicht siehst, verfasst von Ulrich Woelk, spielt im Stadtviertel Moabit. Die Hauptfigur ist ein frustrierter Journalist, der den Gedanken an den baldigen Umzug seiner Ex-Frau Irene mit ihrer gemeinsamen Tochter Chloe nicht verkraftet. Seine Zuflucht ist der anstehende Artikel über ein verschwundenes Mädchen namens Janina.

Zugegeben, mein Engagement war ungewöhnlich, da ich üblicherweise für den Kulturteil unserer Zeitung – von einem Feuilleton zu sprechen wäre wohl doch etwas übertrieben – schreibe, und das vornehmlich über Filme und Filmstars. […] Vielleicht war da tatsächlich etwas in mir, das sich nach all den Cinemascopeabenteuern und Dolby-Surround-Katastrophen, die ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesehen und beurteilt hatte, nach dem wirklichen Leben sehnte, den wirklichen Dramen.

Seine Passion für das Filmische führt dazu, dass er sich in die Story hineinsteigert und nach Spuren für das Verschwinden des Mädchens sucht. Die Kurzgeschichte nimmt am Ende eine unerwartete und rührende Wendung.

Der zweite Teil beginnt mit Robert Rescues Bis irgendwann und erzählt die makabre und etwas komische Geschichte von einer Leiche in einem Kühllagerraum der Kneipe „Bar“,deren Mitarbeiter*innen sich mehr um die finanzielle Situation sorgen, anstatt um die Leiche ihres Kollegen, der Selbstmord begangen hat. Johannes Groschupfs Heinrichplatz Blues versucht wiederum, das Rätsel um das Verschwinden eines jungen, attraktiven und populären Mannes namens Nick zu enthüllen. Katja Bohnets Fashion Week bildet den Schluss des zweiten Teils und erklärt die traurigen Umstände, die eine Frau zu einem Mord im Affekt führen. In dieser Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht der weiblichen Boutiquebesitzerin Thea, die von ihrem Mann misshandelt wurde, und dem männlichen Kindersoldaten Omar aus dem Kongo erzählt, welche zueinander finden.

Der dritte Teil hinterlässt bei seinen Leser*innen einen bleibenden Eindruck über das Leben von Cops und Gangstern. In Der Unsichtbare von Matthias Wittekindt versucht der Polizist Oberst Gibon, die Morde an zwei italienischen Frauen aufzuklären. Seine Tatverdächtigen sind ein unscheinbarer Junge namens Fabian und ein italienischer Flyer-Bote namens Matteo. Kai Hensels Rammelbullen fängt mit einem peinlichen Polizistenskandal an, welcher sich zu einer spannenden Schießerei entwickelt.

Der vierte Teil spielt in den Berliner Milieus Neukölln, Charlottenburg und Tempelhof. Er befasst sich mit der deutschen Geschichte der Nazizeit, den Folgen des Zweiten Weltkrieges und dem jüdisch-deutschen Verhältnis. In der letzten Erzählung Dog Tag Afternoon von Rob Alef geht es um den Mord an Bill Munro, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges. Die Hauptfigur Schembart stößt bei der Recherche auf ein wohlgehütetes Geheimnis, das sich während der Luftbrücke um 1948 ereignete.

Die Geschichten in Berlin Noir erzählen auf unterschiedliche Art und Weise die Schattenseiten der Großstadt Berlin: Angefangen mit einer verwirrten jungen Frau, welche sich für eine Agentin der Nazi-Zeit hält, und abschließend mit einem Journalisten, der sich mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges und eines Mordes auseinandersetzt. Die letzte Geschichte des Bandes verspricht nicht nur viel Spannung, sondern auch einen interessanten Einblick in die Recherche geschichtlicher Aspekte.

Zoë Becks Erzählung Dora schildert schrittweise die Veränderung einer beliebten, jungen, lebensfreudigen Influencerin zu einer verwahrlosten, wilden Obdachlosen. Die Geschichte wird aus der Sicht des Bruders der Protagonistin erzählt. Die Leser*innen werden vom Er-Erzähler an mehreren Stellen aufgefordert, sich die Protagonistin genau anzuschauen, die allerdings kaum in der Lage ist, sich selbst an- und auszuziehen. Der gewählte Imperativ ist ein geschicktes Stilmittel, um den Fokus auf die Protagonistin zu legen, die zwar im Mittelpunkt der Geschichte steht, aber nicht wirklich selbst handelt, sondern beschrieben wird. Die Veränderung ihres mentalen Zustands erfolgt von einem Moment auf den nächsten und wird nicht aufgeklärt. Auf psychologischer Ebene wirft der Text viele spannende Fragen auf, um die Beweggründe des geistigen Bruchs der Protagonistin nachzuvollziehen. Diese Erzählung und auch die nachfolgende von Ulrich Woelk Ich sehe was, was du nicht siehst haben eine melancholische Stimmung, die die Leser*innen zum Nachdenken anregen. Im Gegensatz zu Becks Protagonistin versucht die männliche Hauptfigur in Woelks Geschichte ihr Problem zu lösen. Der Protagonist wird als ein frustrierter, träumerischer Kultur- und Filmjournalist beschrieben, der sich mehr um seine Arbeit als um seine Familie kümmert. Die filmische Überdramatisierung des Protagonisten sticht besonders im Text hervor und baut die Spannung der Erzählung und der Ereignisse gut auf. Der Text ist sehr auf die Figur angepasst, sodass sich die Leser*innen in die Trauerverarbeitung des Protagonisten hineinversetzen können.

Alle Geschichten in Berlin Noir weisen Elemente des Kriminalromans auf, aber zwei von ihnen werden auf eine besonders tragisch-komische Art und Weise erzählt. In Robert Rescues Bis irgendwann wird der traurige Umstand eines Selbstmords in einer Kneipe von den Mitarbeiter*innen nicht ernst genommen. Die Erzählung beschreibt, wie diese Kneipe entstanden ist und was aus ihr geworden ist. Ab der Mitte der Handlung, wo die Leiche des Mitarbeiters im Kühllagerraum gefunden wird, wird der Versuch unternommen, das Problem unter den Teppich zu kehren. Selbst der hinterlassene Abschiedsbrief wird mit seinen unzähligen Rechtschreib- und Ausdrucksfehlern ins Lächerliche gezogen. In Hensels Rammelbullen ensteht durch einen peinlichen Polizistenskandal in der Zeitung die Handlung der Geschichte. Die Erzählung beginnt mit dem Zeitungsartikel und unterteilt sich in zehn kleinen Kapitel mit jeweils einer oder zwei Seiten. Sie lässt sich wie ein sehr kurzer Roman lesen, der viel wörtliche Rede verwendet, um alle Charaktere zu beleuchten. Aus der Sicht der männlichen Hauptfigur, eines Familienvaters und Polizeibeamten, wird die Handlung langsam vorangetrieben. Obszönität, Kraftausdrücke und unangenehme Ereignisse werden durch die Sprache und den Stil dieser Geschichte unterstrichen und verleihen dem Cop-und-Gangster-Leben einen besonderen Charme.

Dieser Band bereichert das Genre der Kriminalliteratur und führt die Tradition der Berlin-Krimi-Welle der 1920er und 1930er weiter. Er ist ein Sammelsurium aus spannenden, unberechenbaren, tragischen und komischen Originalgeschichten, die die Leser*innen auf eine vielfältige Weise unterhalten.