Die Kurzprosa- und Lyrik-Autorin Louise Juhl Dalsgaard nähert sich in ihrem ersten Roman Genug, der 2021 im Picus Verlag erschienen ist, auf poetische Weise der Gefühlslage einer jungen Frau, die auf dem Weg zur Genesung ihrer Essstörung ist. Der von Gerd Weinreich aus dem Dänischen übersetzte Roman bietet Humor und Hoffnung, aber auch Hilflosigkeit und Depressivität. Die Autorin schafft es, den Leser*innen ein kritisches, immer noch aktuelles Thema mit einer wunderbaren Leichtigkeit zu vermitteln und nimmt sie mit auf die Reise in die Psyche der Protagonistin, die sich wie ein Puzzle nach und nach zusammensetzt.
von Sina Thamm
„Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.“ – Diese eigens notierten Ziele lassen die Protagonistin in eine gefährliche Abwärtsspirale geraten. Nach ihrem 1,5er Abitur besucht sie zunächst eine Hochschule. Doch schon bald muss sie diese wieder verlassen, denn mit gerade einmal 32 kg wird sie ins Krankenhaus eingewiesen. Dem*der Leser*in wird gleich zu Beginn die harte Realität der Ich-Erzählerin vor Augen geführt: Nahezu nüchtern erzählt sie davon, wie sie Essen in ihrer Kleidung versteckt, es heimlich gegen Diabetikerkost austauscht, Saft wegschüttet oder sie nach ihrer Entlassung Brühwürfel lutscht, jeden Tag zwei Kilometer schwimmt und zehn Kilometer läuft.
Es folgen Erzählungen weiterer Klinikaufenthalte, momenthafte Erinnerungen an die Eltern, Großeltern und Liebesbeziehungen. Gemischt wird das Ganze mit Auszügen aus Krankenakten, welche die sachliche Sichtweise Außenstehender preisgeben. Die Erinnerungen der Erzählerin ähneln Tagebucheinträgen, die die Leser*innen tief in ihre Gedankenwelt eintauchen lassen und aufgrund ihrer Kürze das Lesen unkompliziert gestalten.
Man entwickelt schnell Empathie gegenüber der klugen, dennoch verkorksten Protagonistin und wird durch die extremen Geschichten ihrer Vergangenheit immer wieder aufs Neue mitgerissen. „Macht die Augen auf!“, möchte man rufen, wenn Mutter oder Vater die Gedanken und Ängste ihrer Tochter nicht ernst nehmen. Manch ein*e Leser*in wird sich vor Entsetzen mit der Hand vor dem Mund ertappen.
Die Rückblicke der Erzählerin stellen ihre Kindheitserinnerungen und ihre eigene Entfremdung ehrlich und unverblümt dar. Mehr und mehr bekommt der*die Leser*in das Gefühl, zu verstehen, was hinter der Essstörung liegt. Dabei hilft zusätzlich Dalsgaards bildhafte Sprache, die wiederholt zum Nachdenken einlädt. Mit Textstellen wie der folgenden kreiert sie Metaphern, die im Gedächtnis bleiben:
Meine Mutter versteht sich auf Hefeteig. Sie hat ein Gefühl für die Menge von Mehl und Salz, die Wassertemperatur und den Willen des Teiges.
Sie lässt ihn ruhen, den Teig, genau so lange, bis er sich selbst zu groß wird. Dann schlägt sie ihn nieder, bis er wieder in die Schüssel passt, und formt die herrlichsten runden Milchbrötchen, immer passend zur Größe meines Hungers.
Ich liebe diese Brötchen.
Mit den Rückblenden der Protagonistin beweist die Autorin nicht nur Geschick im Umgang mit poetischer Sprache, sondern auch einen außergewöhnlichen Sinn für Humor. Nach einer weiteren Einlieferung berichtet die Erzählerin von einer Gesprächstherapie mit einem Arzt:
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich genau an dem Tag schon davor gewarnt wurde, aber er holt einen langen Test hervor, den ich schon einige Male zuvor ausgefüllt habe. Das ist so ein Test mit Fragen wie „Wann hast du zuletzt mit einem Marsmenschen gesprochen?“ oder „Stammst du von einem anderen Planeten?“. Dann gilt es, kühlen Kopf zu bewahren und nicht „Ja“ zu schreiben, auch wenn man sich so fühlt, als wäre man vom Mond gefallen.
Genug ist ein Roman, der als „mal etwas Anderes“ charakterisiert werden kann: Mit einer Mischung aus sachlichen Patientenakten, nüchtern erzählten Erinnerungen, die immer wieder mit Witz überraschen, und poetisch-bildhafter Sprache schafft Louise Juhl Dalsgaard den Spagat zwischen Objektivität und Einfühlsamkeit. Obwohl ihre Wortkunst sicher nicht für jede*n Lesende*n geeignet ist, schafft die Autorin es dennoch, dass die rational erzählte Geschichte einer jungen Frau, die trotz einiger Rückschläge weiter um ihr Leben kämpft, tief unter die Haut geht und zum Nachdenken anregt.
Der Picus Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses E-book zur Verfügung gestellt.
