Jean de La Fontaine sagte einmal: „Das Schicksal ereilt uns oft auf den Wegen, die man einschlägt, um ihm zu entgehen.“ Diese Erfahrung müssen auch die fünf Protagonisten in Wolfgang Popps 2015 erschienenen Roman Die Verschwundenen (Edition Atelier) machen. Mitten im Leben brechen sie auf einmal alle Kontakte ab und tauchen unter, um fernab ihrer Heimat einen Neustart zu wagen. Erst Jahre später tauchen sie plötzlich wieder auf – entweder zufällig oder das Schicksal zwingt sie, sich an die damals Zurückgelassenen zu wenden. So wird das einst auserwählte Exil zum Schauplatz von überraschenden Wiederbegegnungen zwischen zurückhaltenden Zauderern, feinsinnigen Exzentrikern und skurrilen Sonderlingen.
Von Fiona Schwarz
Nur allzu oft gibt es Menschen, die wir im Laufe unseres Lebens aus dem Blickfeld verlieren und nur allzu oft stellen wir uns in stillen Momenten die Frage: „Was ist wohl aus … geworden?“ Genauso ergeht es auch dem auf die Vierzig zugehenden Hotelkritiker Lechner, der eines Tages zufällig im bunten Gemenge auf der Piazza Torquato Tasso in Sorrent seinen ehemaligen Lateinlehrer erblickt. Ein halbes Jahr nach dem Auftauchen einer seltsamen, neuen Mitschülerin eröffnete dieser damals seinen Schülern, dass er seinen Job kündigen und die Stadt verlassen werde, ohne auch nur einen einzigen plausiblen Grund für sein plötzliches Aufbrechen zu nennen.
Nicht ganz so zufällig, aber ebenso überraschend trifft der Erzähler der zweiten Geschichte nach Jahren der Funkstille seinen alten Schulfreund Felder wieder. In einem Brief berichtet Felder ihm von seiner Krebserkrankung und seinem baldigen Sterben. Für einen letzten Gefallen bittet er nun den Erzähler, nach Cambridge zu reisen. Sein Schulfreund soll die im Rahmen eines Forschungsprojekts sorgfältig angefertigten Notizen in Buchform bringen und veröffentlichen. Doch als dieser sich schließlich der Aufgabe annimmt und die zwei vollgestopften Plastiktüten mit etlichen Notizbüchern sichtet, stößt er auf allerhand absurde Theorien, die völlig zusammenhangslos scheinen: von der Phänomenologie des Koitus bis zu einer unbekannten Krötenart auf Sumatra. Schnell wird ihm bewusst, dass nicht nur die wirren Aufzeichnungen allesamt frei erfunden sind, sondern Felder sich auch eine Identität mit doppeltem Boden erdichtet hat.
Es heißt ja immer, dass es quälend, ja auf Dauer nicht zum Aushalten sei, mit einer Lüge zu leben. Für Felder schien genau das Gegenteil der Fall gewesen zu sein. Ohne Lüge war ihm das Leben unerträglich. Und nicht nur das Leben, sondern offenbar auch der Tod.
In Die Verschwunden des österreichischen Schriftstellers und Kulturjournalisten Wolfgang Popp werden Elemente des Verschwindens und Untertauchens, der Wiederbegegnung und des Verlustes zum Leitmotiv seiner fünf Kurzgeschichten. Fünf verschiedene Ich-Erzähler nehmen sich der Aufgabe an, die Geheimnisse der damals aus ihrem Leben „Verschwundenen“ zu lüften und werden dabei nicht nur zu Protokollanten derer Rückzüge, sondern decken auch in detektivischer Kleinarbeit falsche Identitäten und menschliche Abgründe auf. Alles in dem Versuch, die alten Weggefährten wenigstens für einen Moment aus ihrer inneren Isolation zu befreien.
Die von Popp auf den ersten Blick sehr unterschiedlich skizzierten Lebensläufe sind dabei feinsinnig miteinander verwoben und der*die Leser*in verfolgt, wie lustvoll und listig der Zufall seine Fäden und Netze spinnt. Einige Figuren begegnen und kennen sich nämlich über die Grenzen ihrer eigenen Erzählungen hinaus. Einige steigen im selben Hotel ab, andere werden in der einen Geschichte bloß erwähnt, bevor sie dann in der sich anschließenden selbst zum Protagonisten werden. Zusammengehalten wird dieses Erzählkonstrukt durch den äußeren Rahmen einer gemeinsamen Schulzeit in Wien.
Gekonnt entführt Popp seine Leser*innen auf eine ungewöhnliche Reise von Italien über England und Griechenland bis nach Sri Lanka. Orte, die er in einer sehr lebendigen und bildhaften Sprache mit all ihren Farben, Gerüchen und Geräuschen beschreibt, sodass die Leser*innen zeitweise das Gefühl bekommen, selbst Beteiligte der merkwürdigen Verstrickungen zu sein. So genießen wir mitten im hektischen Gedränge auf dem Stadtplatz von Sorrent einen Teller Cannelloni al Mascarpone e Ricotta oder lassen uns den Duft von Thymian, Salbei und Rosmarin der griechischen Wiesen in die Nase steigen.
Während des ganzen Aufstiegs hatte uns ein starker Wind entgegengeweht, als wir zu einem Feld gekommen waren, hatte der Wind jedoch nachgelassen, und der Geruch nach Rosmarin und Thymian war uns so intensiv in die Nase gestiegen, dass er uns benebelte. Dann wurde es völlig windstill, und mit der Luft schien auch die Zeit stillzustehen. Ein kurzer Augenblick Ewigkeit.
Popp lässt seine Leser*innen in eine zeitlose Welt eintauchen, die den „Freaks“ und „Spinnern“ unserer Gesellschaft eine Bühne bietet und von denen man sich nur ungern wieder verabschiedet. So auch in der vorletzten und unter allen die vielleicht skurrilste Geschichte, in der der leicht überdrehte Dandy-Linguist und Hobbykoch Heise seiner Heimatstadt Wien den Rücken kehrt, um mit seinem Liebhaber in den Tiefen des südamerikanischen Dschungels die Sprache eines rätselhaften Naturvolks zu untersuchen und darüber wahnsinnig wird.
Oft scheint es, als habe sich Popp von den Themen des italienischen Filmregisseurs Michelangelo Antonioni inspirieren lassen. Wohl deshalb ist dem Roman auch passenderweise ein Zitat aus dessen Film Beruf: Reporter (1975) vorangestellt. Antonionis Filme kreisen um die Motive der inneren Entfremdung und Zerrissenheit. Figuren erschaffen Trugbilder ihrer eignen Identitäten, um sich selbst zu entfliehen und Leben zu entwerfen, in denen sie unabhängig und losgelöst agieren können. Genau diese Motive durchziehen auch den gesamten Roman von Popp und verleihen den Kurzgeschichten auf diese Weise eine gewisse Festigkeit, fassen sie in ein stetes Erzählgewebe. Besonders deutlich wird dies in der letzten Erzählung, in der der rätselhafte Couvier sich nur durch die Annahme einer falschen Identität dazu fähig sieht, die Ereignisse seiner Vergangenheit niederzuschreiben, zu verarbeiten und sich schließlich so von diesen zu befreien. Doch anders als die antonionischen Figuren, geben emotionale Katastrophen Popps Figuren keinen Anlass, in einen allzu großen Pessimismus abzurutschen, sondern sind stets Auslöser verblüffender Wendungen.
Mit einer erfrischenden Leichtigkeit gelingt es Popp, fünf skurrile, aber originelle Lebensläufe zu entwerfen. Diese erinnern uns auf charmante Weise daran, dass meist auf den Wegen, die das große Glück versprachen, es die unvorhergesehenen Wendungen sind, die uns nach Jahren des Kontaktabbruchs wieder in die Arme eines alten Freundes, Weggefährten oder Bekannten treiben. Dabei wird den Leser*innen feinsinnig vor Augen geführt, dass wir alle Spuren im Leben anderer hinterlassen und man fühlt sich dabei ertappt, sich selbst die Frage zu stellen, wie man wohl auf Menschen seiner eigenen Vergangenheit reagieren würde. Würde man ebenso schnell seine Koffer packen und um die halbe Welt reisen wie Popps Protagonisten?
Die Edition Atelier hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
