Ein dörfliches Szenario beherbergt wundersame Figuren und Vorkommnisse: Lisa Kreißlers Roman Blitzbirke, der 2014 im mairisch Verlag erschienen ist, erzählt über das Zurückkommen in eine Heimat, in der Erinnerungen an bereits vergangene Tage mit neuen Schicksalsschlägen verflochten sind.
von Lara Ehlis
Märchenhaft beginnt der Roman, der in dem Autobahndorf Odinsgrund spielt: Erst ein Tunnel muss von Edda durchschritten werden, um das anscheinend aus der Zeit gefallene Städtchen betreten zu können. Das Übergangsritual macht aus der Protagonistin prompt die Beobachterin und Erzählerin der Ereignisse um die Mitglieder ihrer eigenen Familie, die – im Gegensatz zu ihr – das Autobahndorf nicht verlassen haben. Im Schlepptau hat Edda ihren neuen Partner Hans, der, von Odinsgrund verzaubert, jede Szene und jedes Detail auf seinen Zeichenblock bannt. Eddas Heimat wartet mit allerlei sagenhaften Dingen auf: Riesen, eine von Hirschen gezogene Kutsche, Meerjungfrauen, „Spinnenkinder“ und aus dem Nichts auftauchende Zaubermünzen.
Doch trotz aller angedeuteter Magie verhandelt Blitzbirke ein Motiv, das realitätsnaher nicht sein könnte; es geht um das nach Hause Kommen, die Rückkehr. Eddas – mal federleichte, mal tonnenschwer wiegende – Erinnerungen gehen dabei Hand in Hand mit der Erkenntnis der Protagonistin, dass eben nicht mehr alles so ist, wie es früher einmal war: Der stets eifrig arbeitende Vater hat sich beim Sturz vom Pferd einige Rippen gebrochen und befindet sich nun, unter ärztlicher Auflage eines Bewegungsverbots, im Krankenhaus. Die Mutter, geschwächt durch eine Krebsbehandlung, schläft allabendlich entkräftet auf dem Sofa ein. Was der Roman anbietet, ist eine Darstellung des Gefühls, das sich einstellt, wenn man bemerkt, wie alt die eigenen Eltern geworden sind, wie kraftlos und anfällig, sodass man sich Sorgen macht und sie mit anderen Augen zu sehen beginnt. Die kindliche Unbeschwertheit vergangener Tage ist vorüber.
Gespenster zeigen sich erst, wenn alle Lichter gelöscht sind, wenn man sich wehrlos dem Schlaf anvertraut hat.
Und trotzdem sind die Geister der Vergangenheit noch allzu lebendig; sie haben sich in den tragenden Balken des Elternhauses niedergelassen. Edda findet inmitten der Erinnerungen an verstorbene Verwandte und traumatisierende Ereignisse keinen Schlaf. Der Roman erweckt bei der*dem Leser*in stellvertretend für die Protagonistin das Gefühl, der aus dem Bett herausschauende Fuß müsse sofort unter der Decke sicher verborgen werden, damit das Monster ihn nicht schnappen kann. Während tagsüber dörfliche Idylle vorherrscht, hängen jene Gedanken, die zu nachtschlafender Zeit den unruhigen Verstand beschäftigen, drohend über der Szenerie.
Das an die Autobahn grenzende Dorf mit seinen märchenhaft anmutenden Bewohnern und dem mythischen Namen verweigert den Leser*innen die konkrete Lokalisierung: Wo sich goldene Kornähren bereit zur Ernte im Wind wiegen, wird im nächsten Moment das Bild eines wellenbewegten Ozeans heraufbeschworen, obwohl das Meer in weiter Ferne liegt. Aufziehende Gewitter untermalen die Dramaturgie der Ereignisse; nicht zuletzt vereint die titelgebende „Blitzbirke“ das Schicksal Eddas mit den Geschehnissen in Odinsgrund. Parallel dazu, und dennoch mit dem Schauplatz verflochten, passiert allerlei Alltägliches und Ungewöhnliches und nie wirkt das gleichzeitige Vorhandensein von beidem unnatürlich oder deplatziert.
Mein ganzes Interesse ist auf den Augenblick gerichtet. Ich blicke in die Landschaft und will sie wirklich sehen. Ich mache mich durchlässig und formuliere, was mich erreicht, in Farbe.
Kein Wunder, dass der Künstler Hans in jedem Winkel Inspiration für eine Zeichnung findet. Edda hingegen, die sogar im Fernsehen ausgestrahlte Naturdokumentationen mit Hintergrunderzählungen anreichert, als könne sie es nicht ertragen, dass die dargestellten Personen keine eigenen Geschichten haben, steht Hans‘ Art die Welt einzufangen recht verständnislos gegenüber. Skizzenblock und Drehbuch konkurrieren über den gesamten Verlauf des Romans hinweg miteinander; es kommt zu handfesten Diskussionen darüber, wie und ob sich ‚das Wesentliche‘ in einem Kunstwerk einfangen lässt. Dazu passend ist auch der Roman selbst von Passagen durchbrochen, die im Stil eines Drehbuchs verfasst sind. Bar jeder Dekoration sprechen hier nur die Figuren, lediglich begleitet durch knappe Regieanweisungen. Dass der narrative Modus Edda in den Genen liegt, wird deutlich, als ihr noch immer bewegungseingeschränkter Vater aus dem Krankenhaus entlassen wird und sie – aus der Beobachterinnenperspektive – auf ihn blickt:
Jeder Raum, jeder Gegenstand, sogar einzelne Worte sind für ihn untrennbar mit einer Geschichte verknüpft, die immer dann erzählt werden muss, wenn der Raum aufgeht, der Gegenstand schwer wiegt, das Wort fällt.
Die Märchenhaftigkeit, die zu Beginn des Romans angedeutet und in dessen Verlauf zunehmend von Realitätssplittern durchsetzt wird, findet am Ende des Romans – so viel sei verraten – einen krönenden und gleichzeitig unerwarteten Abschluss: Wie ein surrealistisch-düsteres Schneewittchen folgt Edda Hans durch eine Welt, die schon bald ins Unerklärbare, Unfassbare abdriftet und das Versprechen der Magie einlöst. Dies gelingt vor allem dank der sagenhaft konstruierten Sprachbilder, die der*dem Leser*in Eintritt in die wundersame Welt des Romans gewähren.
Abschließend noch eine Empfehlung an diejenigen, die ein aktuelles Buch der Autorin lesen möchten: Lisa Kreißlers Ende August diesen Jahres erscheinender neuer Roman Schreie&Flüstern fokussiert das bereits in ihrem Erstlingswerk Blitzbirke präsente Motiv der Begegnung des Menschen mit der Natur.