Anne Garréta – SPHINX

Paris – eine Stadt, die unumstößlich und unweigerlich mit bestimmten Bildern und besonders mit einer bestimmten Thematik verbunden ist: Liebe. Auch in Anne Garrétas SPHINX gibt es in dieser Hinsicht keinerlei Überraschung. Der Roman, der bereits 1986 auf Französisch und 2016 dann in der deutschen Übersetzung von Alexandra Baisch erschien, erzählt die Geschichte zweier Liebender.

von Wiebke Martens

Die Lesenden folgen den Erinnerungen des*der Erzählers*in. Einer Person, die auf den ersten Blick ein eher unbeständiges Dasein fristet. Freund*innen und Gefährt*innen tauchen auf und verschwinden wieder. Halbherzig und voller Zweifel beschäftigt sich die Erzählinstanz tagsüber mit einem Theologiestudium und geht nachts – mit beeindruckender Leidenschaftslosigkeit und doch durchaus konstant – der Arbeit als DJ in einem Nachtclub nach.

Von alledem bleibt mir nur eine bruchstückhafte Erinnerung. Alle Nächte sind zu einer einzigen verschmolzen, unzusammenhängend, sich wiederholend wie die Musik, die ich dort vollkommen lustlos produzierte.

Der eher in sich gekehrte Charakter, über dessen Vergangenheit die Lesenden kaum etwas erfahren, entpuppt sich als gern gesehener Gast in diversen Etablissements und darüber hinaus als ein*e äußerst detaillierte*r Beobachter*in des Pariser Nachtlebens. Die zuweilen ausschweifenden Beschreibungen des schillernden Nachtlebens lassen die Lesenden sich hineinversetzten in das fokuslose Treiben, das Umherirren der Nachtschwärmer*innen, das auf eine Art gleichermaßen strukturiert getaktet und ziellos wirkt. Es fällt dabei nicht immer leicht der Handlung zu folgen, ohne sich selbst in den Schilderungen der Pariser Nacht zu verirren.

Tiff […] teilte mir die einzelnen Stationen unseres nächtlichen Streifzugs mit: etwa fünfzehn Nachtlokale, von Pigalle bis Opéra, heruntergekommene illegale Schuppen und Revuen mit dem Anschein von Luxus, in denen alle Viertelstunde dieselben Stripper auftraten und unermüdliche von einer Bühne zur nächsten wechselten. Sie beschrieb mir die Hölle mit der Unbekümmertheit einer Verdammten.

Immer wieder zieht es die Erzählinstanz ins Eden, den Nachtclub, in dem A*** im Tanzensemble angestellt ist. Die sich entwickelnde Beziehung beschreibt die Art Romanze, die unweigerlich mit Paris verknüpft wird: geprägt von Leidenschaft, Schmerz, Eifersucht und Trauer. Immer wieder versuchen die beiden Liebenden, die von Unterschiedlichkeiten in Wesen, Interessen, sozialen und religiösen Hintergründen geprägt sind, der einnehmenden Pariser Nacht zu entkommen und fliehen in die unterschiedlichsten Länder und Städte, nur um sich letztendlich an ihrem Ausgangspunkt wiederzufinden.

Im nächsten Winter beschlossen wir, nach New York zu fahren […]. Wir erhofften uns eine Zäsur, eine Auszeit von dem irrsinnigen Leben, zu dem unsere Arbeit und unsere Neigungen uns verleiteten.

Die Autorin beschreibt eine nicht ungewöhnliche Liebesgeschichte. Allerlei Widrigkeiten stellen die Liebenden auf die Probe, wobei besonders die unterschiedliche Herkunft und Hautfarbe bei den anderen Figuren anzustoßen scheinen. Trotzdem hebt sich SPHINX von anderen, ähnlichen Liebesromanen ab. Garréta verzichtet in ihrer Erzählweise auf ein bestimmtes Detail: an keiner Stelle im Roman wird auf das Geschlecht der beiden Hauptcharaktere eingegangen. Geschlechterrollen, die bis heute nicht vollständig aus dem gesellschaftlichen Denken verband sind und zur Entstehungszeit des Romans wohl noch deutlicher eingebrannt waren, haben in der Beziehung zwischen A*** und dem*der Ich-Erzähler*in keinerlei Gewichtung. SPHINX zeigt, dass eine geschlechtsneutrale Erzählung sehr wohl möglich ist und weder der Handlung an sich, noch dem Lesevergnügen einen Abbruch tut. Dass man sich während der Lektüre selbst erwischt, auf die Suche nach Hinweisen zu gehen, die auf irgendeine Geschlechtlichkeit hindeuten könnten, lässt die Lesenden sich ihrer eigenen Rollenverständnisse bewusstwerden, diese hinterfragen und sie im besten Fall ausräumen.