Die folgende Kurzgeschichte wurde über den Verlauf mehrerer Monate seit Beginn der Corona-Pandemie verfasst. Es handelt sich um einen Text, der sich an der Entstehungsart des ‚Cadavre Exquis‘ orientiert: Bei dieser im Surrealismus entwickelten Methode erzählen mehrere Schreibende nacheinander ein Fragment einer Geschichte, ohne jedoch zu wissen, was im vorangehenden Teil steht. Für den Start wurden die Stichworte „Handschuh“, „Reise“ und „Hamster“ festgelegt – und das ist daraus geworden:
von Anthoula Hatziiouannou:
Holly wälzte sich im Bett herum und wachte schweißgebadet auf. Schon wieder einer dieser komischen Träume…. Sie sollte wirklich langsam aufhören, sich vor dem Schlafengehen ein paar Gläschen Wein zu gönnen. Oder vielleicht auf gruselige Lektüre verzichten? Stephen Kings Alpträume und Alkohol sind wahrlich keine gute Kombination! Dabei wusste sie aus nächster Nähe, wie das Leben mit einem Alkoholiker verlief. Ihr Stiefvater war immerhin einer. Ihre Mutter ließ sich zum Glück letztes Jahr von diesem Kerl scheiden…
Holly schaute auf die Uhr. Es war 9.47 Uhr. Holly rappelte sich langsam aus dem Bett auf. Ben war schon längst weg. Sein kalter Kaffee und ein halb aufgegessener Royal Donut standen noch auf dem Küchentisch. Ihr Kopf brummte. Vielleicht sollte sie sich wieder hinlegen, immerhin hatte sie heute frei. Dank der Pandemie konnte sie immerhin ihre Überstunden abbauen. Nicht, dass es irgendwas brachte. Fast alle Geschäfte waren geschlossen. Da hatte sie einmal frei und konnte nicht einmal vernünftig shoppen gehen. Dabei verdiente sie nicht mal schlecht in der Marketing-Abteilung…
Holly hörte sich ihre Mailbox-Nachrichten an. Allesamt von Mom. Sollte sie sie später anrufen? Oder jetzt, damit sie den Rest des Tages genießen konnte?
Sie schaltete den Fernseher ein, während sie sich Kaffee machte. Im Hintergrund hörte sie die Wetterfrau. 22 Grad. Wunderbar, endlich kam der Frühling! Eine einfache Jeans mit ihrem roten Lieblingsshirt wären genau das Richtige! Vielleicht rief sie Melanie an, um mit ihr etwas im Park spazieren zu gehen. Sie hatte heute immerhin auch frei.
…
Holly kam um 21 Uhr wieder zu Hause. Das war ein wirklich schöner, aber auch anstrengender Tag. Sie war klatschnass. Es war wärmer, als gedacht. Sie zog sich aus und verschwand im Badezimmer. Nach einer geschlagenen Stunde und einem ausgiebigen Bad ging sie ins Wohnzimmer und rief sie ihre Mutter an. Diese ging nicht ans Telefon. Dann versuchte sie es halt morgen. Sie schaltete den Fernseher an.
Holly lag auf der Couch und zappte die Kanäle durch. Es gab aber auch wirklich nichts Gescheites im Fernsehen! Ständig hörte man nur Nachrichten über diese neuartige Krankheit, die die Welt befallen hat.
Was Holly besonders fuchsteufelswild machte, war die Stornierung ihrer Reise nach Kreta, die sie seit letztem Jahr gebucht hatte! Als ob sich die Lage bis dahin nicht ändern würde… Das ganze Jahr arbeiten und nicht mal den wohlverdienten Urlaub genießen können! Das ist einfach nur Pech, aber davon hatte sie anscheinend genug…
Sie starrte auf die Uhr.
22.45 Uhr.
Wo Ben nur blieb? Machte er wieder Überstunden in der Redaktion?
von Ben Sulzbacher:
Sie schaute auf ihr Handy. Auf dem Display leuchtete zwar keine Nachricht von Ben, dafür hatte ihr die neue Arbeitskollegin geschrieben. „Hi. Ich weiß, es ist schon fast zu spät, um noch auszugehen. Aber hast du heute noch etwas vor? LG :-)“, las Holly. Eigentlich hatte sie keine Lust, heute noch das Haus zu verlassen. Und außerdem wusste sie kaum etwas über das Mädchen, mit dem sie sich seit zwei Wochen eigentlich nur die Wand teilte, die ihre beiden Büros voneinander trennte. Andererseits hatte Holly mitbekommen, dass Katharina krampfhaft versuchte, Anschluss bei den anderen Kollegen zu finden. Seit Matthias – ein stereotyper BWLer und Clown der Etage – die eingerahmte Fotografie eines scheinbar übergewichtigen Goldhamsters auf Katharinas Schreibtisch gesehen hatte und ihr daraufhin erzählte, dass er als Kind seinen dsungarischen Zwerghamster mit Korn abgefüllt vom Fensterbrett hatte springen lassen, zog sie sich allerdings weitestgehend zurück.
Die Erinnerung an diesen Vorfall weckte Hollys schlechtes Gewissen, sodass sie ihrer neuen Marketing-Assistentin entgegen ihrer eigentlichen Laune antwortete: „Hey Katharina, entschuldige die verspätete Antwort. Falls du inzwischen noch nicht anderweitig verplant bist, können wir uns in der Stadt gerne noch auf ein Bier treffen.“ Auf das „LG“ oder einen dieser albernen Smileys verzichtete sie bewusst.
von Helena M. Stock:
Bis Katharina antwortete, würde ein wenig Zeit vergehen. Holly blickte auf die ihre Armbanduhr. Dann schaute sie zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte sich zugezogen. Tief und schwer hingen graue Wolkenmassen über den Dächern der Stadt, die wie ein Organismus weiter pulsierte. Im orangefarbenen Licht, das der Dämmerung auf künstliche Weise zu trotzen versuchte, eilten vereinzelte Gestalten über die Gehwege. Holly blickte rasch auf ihr Handy. Wenn Katharina nicht antwortete, würde sie Tatsachen schaffen. Selbst unterwegs sein, weil sie zu lange auf ihre Nachricht gewartet hatte. Und so beschäftigt sein, dass sie diese zu spät gelesen hätte. Der nächste Blick galt wieder ihrer Armbanduhr. Deren Sekundenzeiger schob sich quälend langsam voran – jeder Schritt ein weiterer auf der Stelle. Womit sich beschäftigen? Was tun in einer sich zunehmend manifestierenden Pandemie? Das war es doch, nicht wahr? Eine Pandemie. Holly schob die Gedanken vorerst beiseite. Stattdessen griff sie kurzentschlossen ihren Mantel vom Garderobenhaken, warf das Handy in ihre Handtasche und hatte bereits im nächsten Moment die Türe hinter sich zugeworfen. Fest entschlossen, den Abend mit einer Flasche griechischen Rotweins auf dem Sofa zu verbringen – zur Not auch alleine, mochte Ben weiterhin seine Schlagzeilen jagen – steuerte sie zielstrebig auf die Einkaufsstraße zu. In dem gut sortierten Supermarkt in der unteren Etage des Einkaufszentrums gab es alles, was das Herz begehrte, auch kulinarische Reisen nach Griechenland. Als Holly sich hinter anderen geschäftig umherschwirrenden Leuten durch die schweren Schwingtüren schob, überkam sie doch das schlechte Gewissen ob ihres Egoismus. Etwas unentschlossen blieb sie neben der Tür stehen. Doch sie wurde unsanft von dem nicht abreißenden Menschenstrom beiseite gespült, sodass sie an dem nahegelegenen Eingang des kleinen Zoofachhandels landete. Hektisch begann sie in ihrer Handtasche nach dem Handy zu suchen. Schließlich fischte sie es mitsamt einem ihrer Lederhandschuhe hervor, der ihr direkt zu Boden fiel. Wem schreiben? Bei wem ihr schlechtes Gewissen beruhigen? Nein, nicht Katharina. Nicht im Messenger, bei dem man sehen konnte, wann sie online war. Am besten eine SMS an Ben. Ob er noch etwas braucht? Oder ob er vielleicht auch etwas aus dem Spirituosen-Regal möchte? Nach Essen oder ähnlichem fragte sie ganz bewusst nicht. Ein bisschen Schmerz durfte er ruhig empfinden, wenn er die Reste ihres kulinarischen Griechenlands im Kühlschrank finden würde. Noch während sie auf „Senden“ drückte, angelte sie nach dem Handschuh – und bekam den kalten Kunststoff eines bunten Kinderrucksacks ins Gesicht, gefolgt von einer prall gefüllten Plastiktasche. Erschrocken richtete sie sich auf. Eine Frau um die sechzig eilte an ihr vorbei, dick bepackt mit Einkaufstüten, an der Hand ein kleines Mädchen, das ihr stolpernd folgte. Es blickte zurück und rief etwas, doch ihre Worte gingen im Stimmengewirr unter. Übertönt wurde sie vor allem durch die Frau, die sie unablässig weiter in Richtung Ausgang zerrte und die Holly ein „Passen Sie doch auf!“ hinterher schleuderte. Holly schnappte nach Luft. Wie konnte man so ignorant sein? Noch während die beiden im Strom der Menschen abtauchten, überkam sie ein Gefühl des Mitleids mit dem Mädchen. Es war nicht mehr als ein weiteres Anhängsel, eine Erledigung. Keine vier Jahre alt, ihre Worte wogen nicht mehr wie eine Einkaufstüte. Holly strich sich über die getroffene Wange und ein Stückchen Sägespäne rieselte zu Boden. Sie klaubte ihren Handschuh auf und schnippste ein paar weitere Späne vom Stoff. Entschlossen stopfte sie Handy und Handschuh in ihre Manteltasche und reihte sich in den Strom der Leute ein, die die nächste Rolltreppe hinunter zum Supermarkt nahmen. In der Obst- und Gemüseabteilung blieb Holly erstmal stehen. Und zog so ein weiteres Mal den Unmut ihrer Mitmenschen auf sich, da sie, entgegen ihrer eigentlichen Gewohnheit, dem Kohl entgegen strebten – schlicht, weil Kohl das einzige war, was sich noch in den Auslagen befand. Holly ging mit und blieb vor dem Spitzkohl stehen. Ein seltsames Gefühl regte sich in ihr. Ein Wühlen, eine innere Unruhe. Sie nahm den Kohl und ging weiter, unbewusst ihrer üblichen Route folgend. Ob es Spitzkohl auf Kreta gab? Wohl eher nicht. Aber sicherlich könnte man ihn mit Käse und Oliven irgendwie – naja, ihr würde schon was einfallen. Wenn es gerade keine Tomaten gab… Mit einem flauen Gefühl im Magen registrierte sie die leeren Regale, in denen sich normalerweise die passierten Tomaten befanden. Während die übrigen Leute zielstrebig entweder in Richtung des Toilettenpapiers oder zu den Konserven eilten, wandelte sie in Richtung Kühlregal. Angekommen überlegte sie. Und nahm schließlich zwei Packungen Feta. Und zwei Becher der eingelegten Oliven. Das unruhige Gefühl wollte nicht gehen. Es schien ihr, als habe es sich in ihrem Bauch festgekrallt. Gleich war sie fertig. Gleich konnte sie wieder hinaus. Bei den Weinregalen war alles beim Alten. Französische Weine, italienische Weine, Weine von der Mosel, aus der Pfalz – griechischer Wein. In ihrer Manteltasche vibrierte es. Katharina? Geradezu automatisch angelte sie nach dem Handy. Der Käse fiel zu Boden. Mit ihm ihr Telefon und ihr Handschuh. Holly beugte sich nach unten. Das Handy vibrierte erneut. Ein Anruf! Als sie danach greifen wollte, erschrak sie. Der Handschuh hatte sich bewegt! Heraus flog ein kleiner Schnipsel Sägespäne. Gebannt starrte Holly auf die Öffnung des Handschuhs. Das Handy vibrierte wieder. Eine kleine rosa Nase schob sich heraus, gefolgt von zwei glänzend schwarzen Augen. Die Nase zuckte nervös. Ein Hamster! Holly griff nach dem Telefon und nahm ab, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. „Holly?“ Es war Ben. „Ja?“, krächzte sie mit trockenem Hals. „Wenn du schon einkaufen bist – könntest du vielleicht Klopapier mitbringen?“
von Jascha Winking:
Die Olivenhaine flogen vorüber; reichten bis zum Horizont; glitzerten silbrig in den Sonnenstrahlen.
„Als hätte jemand die Äste mit Ohrringen behängt, nicht wahr?“
Ben starrte sie an. „Was redest du da, Holly?“
Sie hatte keine Ahnung; meinte, die Sonne vernebelte ihre Sinne. Seit der Nacht im Luisenviertel passierte ihr das manchmal: In einem Moment war sie ganz klar, im nächsten aber sah sie die wundersamsten Bilder; Metaphern, die niemand sonst erschaffen konnte, sprudelten dann aus ihr heraus; ergossen sich über ihre Sprache und färbten sie in den leuchtendsten Farben. Nach einigen Augenblicken war alles vorbei. Jedes Mal.
Für den Bruchteil einer Sekunde nahm Ben den Blick von der Straße und forschte in ihren Augen; suchte irgendeine Spur des Wahnsinns.
„Wie auch immer“, sagte sie und drehte sich zu dem Käfig, der auf der Rückbank stand. Ruhig lag Sammy in der Ecke. Neben ihm der Hamster. „Wenn dem Vieh was passiert“, sagte sie und drehte sich wieder zu Ben, „wird Katharina uns jagen – bis zum Ende.“
Er nickte. „Ich denke, dass wir–“
Das Kreischen der Reifen zerschnitt die brennende Luft; der Käfig schlug von hinten gegen Hollys Sitz; jemand schrie.
„Oh Gott“, rief sie, während das Auto quietschend zum Stehen kam, „was tust du?“ Sie schaute Ben an.
Fahl leuchtete sein Gesicht in der Sonne.
„Siehst du denn nicht…“, flüsterte er.
Holly blickte auf die Straße. Der Teer flimmerte in der Mittagssonne.
Sie schüttelte den Kopf.
„Der alte Mann mit dem Gewehr“, zischte Ben.
Sie schaute auf die Straße. Wie ein Flusslauf zog sie gemächlich durch das Tal vor ihnen.
„Schatz“, sagte sie nach einigen Augenblicken, „da ist nichts.“
Sie legte ihre Hand auf seine, die auf dem Lenkrad zitterte. Das Leder seines Handschuhs glühte. „Alles ist gut“, flüsterte sie und fuhr ihm durch die Haare. In diesem Moment verliebte sich der Wind in ihre sanfte Stimme und trug sie in die Dörfer, die auf der Hochebene verstreut lagen wie Farbtupfer. Dort hallte sie für vierundvierzig Tage durch die Gassen und wog die Menschen in einen ruhigen Schlaf, aus dem sie erst erwachten, als die Zeit des Leidens vorüber war.
„Da, direkt vor uns“, flüsterte Ben und umklammerte ihre Hand. „Mit dem Gewehr.“
Sie starrte auf die Straße; nur ein paar Kieselsteine lagen auf dem Teer und warteten gelangweilt auf ihren Tod.
Sie blickte Ben an. Angst brannte in den Tiefen seiner Augen.
„Fahr’ weiter“, sagte sie und streichelte über seinen Arm.
Ob die Straßensperre hinter der nächsten Kurve reichen würde, um sie aufzuhalten, wusste die Guerilla nicht.