Seit jeher ist die Brücke ein Sinnbild für den Übergang, führt sie doch von einem Ufer zum nächsten. In Helmut Käutners Film Unter den Brücken (1945) steht die Brücke nicht nur im Zweidimensionalen für den Übergang zwischen zwei Ufern, im übertragenen Sinne zwischen zwei Lebensabschnitten. Der Regisseur erweitert die Perspektive ins Dreidimensionale und stellt die Frage nach der Rolle der räumlichen Verortung des Einzelnen zu diesem Übergang.
von Helena M. Stock
Auf ihrem Lastkahn passieren die Junggesellen Hendrik (Carl Raddatz) und Willy (Gustav Knuth) zahlreiche Brücken. Die Perspektive von ihrem schwimmenden Zuhause hat durchaus etwas für sich, lassen sich doch auf diese Weise ungeniert Frauen auf den Brücken beobachten, die ab und an inne halten, um einen Blick auf den Fluss zu werfen. Eine von ihnen ernsthaft kennen zu lernen, geschweige denn eine Ehefrau zu finden, gestaltet sich jedoch schwierig. Zunehmend wird deutlich, dass die Vereinbarkeit von Ehe und Schifffahrt eine Wunschvorstellung ist. Doch eines Nachts erscheint eine weinende junge Frau auf einer Brücke in Potsdam. Aus Sorge, sie wolle sich ins Wasser stürzen, überreden sie sie, an Bord zu kommen, um sie zurück nach Berlin zu begleiten. Der Aufenthalt der schüchternen und rätselhaften Anna Altmann (Hannelore Schroth) bleibt jedoch nicht folgenlos: Beide Männer werben um ihre Gunst, doch die sie verlässt den Kahn entgegen ihrer Bitte, länger zu bleiben, um sich zwischen einem der beiden zu entscheiden. Ein Leben auf einem Boot? Für sie unvorstellbar! Für Hendrik und Willy ist klar: Derjenige, der Anna für sich gewinnen kann, muss das Boot für immer verlassen. Es beginnt ein wetteiferndes Spiel zwischen den beiden, in dem sie versuchen, das Geheimnis hinter ihrem nächtlichen Innehalten auf der Brücke aufzudecken und das Herz der jungen Frau zu erobern.
Die Kameralinse wird in Käutners Film zum Mittel der Strukturierung und Neuperspektivierung. Sie nimmt Industriebrücken, Fußgängerbrücken und Straßenüberführungen von dem darunter herfahrenden Kahn auf und ermöglicht es den Zuschauer*innen, den Blickwinkel der Schifffahrer einzunehmen. Mithilfe der Kameraperspektive wird eine Grenze generiert, die zwischen dem Ort der Frauen, die die Wege der Kahnfahrer nur über eine Brücke kreuzen, und dem Ort der beiden Junggesellen, die die Begehrten nur von unten in ihrem Kahn beobachten können, verläuft. Wo sich die einzelnen Figuren im Verhältnis zu dieser Grenze befinden oder von wo bzw. woher sie sehen, wird dabei handlungsbestimmend. Der Blick von der Brücke auf die Spree wirkt sehnsuchtsvoll, das Leben auf dem Fluss wird geradezu romantisiert – nicht zuletzt durch den Einsatz von Musik und Seemannsliedern. Unter der Brücke hingegen werden Geheimnisse aufgedeckt und die Vorstellungen des Blickes von oben korrigiert.
Neben dem bewussten Einsatz der Perspektive der Kamera wird auch dem Licht eine besondere Bedeutung zuteil. Mit dem Auftauchen der rätselhaften Anna Altmann beginnt ein wiederkehrendes Spiel von Licht und Schatten: Nur ihre tränennassen Augen und ihre Hände, die einen Zehn-Mark-Schein in den Fluss werfen, werden vom Licht der Straßenlaterne beleuchtet. Zeichen, deren Auslegung noch nicht eindeutig ist und die Fragen aufwerfen. Die beiden Männer tappen im Dunkeln und es bleibt nichts anderes übrig, als Mutmaßungen anzustellen und zu versuchen, sich nach und nach ein Bild von Anna zu machen. Der Einsatz von Licht und Schatten, Ausleuchtung und Verdunkelung, begleitet das Auftreten der jungen Frau, deren Geheimnis es aufzudecken gilt.
Das Bestreben der beiden Kahnfahrer, das Rätsel um Anna zu enthüllen und ihre Zuneigung zu gewinnen, mündet notwendigerweise in einen Konflikt. Während Hendriks Verhalten die schüchterne Frau zunächst mehr zu verstören als zu verführen scheint, gibt sich Willy in ihrer Gegenwart aufmerksam und sensibel. Sich ihrer bereits sicher verlässt er das Boot, um in Berlin zu bleiben und sich so einen Vorteil gegenüber Hendrik zu verschaffen. Bezeichnenderweise nimmt er eine Stelle als Kranführer im Hafen an – ein Gerät, dass sich nicht nur auf der Grenze zwischen Land und Fluss befindet, sondern sich obendrein ausschließlich um sich selbst dreht: Willy tritt auf der Stelle, ihm gelingt es nicht, die Grenze zu überschreiten. Tatsächlich schafft es Hendrik nach seiner Rückkehr von einer Fahrt in die Niederlande, Anna für sich zu gewinnen, allerdings mehr durch einen spontanen Gefühlsausbruch als durch gefühlvolle Annäherung. Sie entscheidet sich sogar, Hendrik auf den Kahn zu begleiten. Damit übertritt auch Hendrik nicht die Grenze, sondern Anna, wobei die Verstärkung der Romantisierung des Flusses und des fahrenden Zuhauses durch sein Ziehharmonika-Spiel und seine Lieder nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürften. Die Ehe und das Leben als Lastkahnfahrer sind also doch miteinander vereinbar. Man(n) muss es nur geschickt anstellen.
Damit wäre die Antwort auf die Frage nach der Rolle der räumlichen Verortung zunächst eindeutig geklärt, denn selbstverständlich folgt die Frau schließlich dem Mann. Dass diese Feststellung aber möglicherweise zu kurz gedacht ist, zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung Annas. Sie wird zum verbindenden Element zwischen Stadt und Fluss, zwischen Junggesellenzeit und Eheleben – oder um das Bild des Filmtitels aufzugreifen: Sie bildet die Brücke. Es stellt sich nur die Frage: Für wen eigentlich? Während Anna nach Berlin zog, um sich dort als Angestellte ihren Lebensunterhalt zu verdienen und für sich alleine eine Wohnung zu mieten – damals ein mutiger Schritt für eine junge Frau –, entlocken die Naivität und Unreife der beiden Männer den Zuschauer*innen des Öfteren ein überhebliches Lächeln. Sie sind es, die sich entwickeln müssen, das ist klar! Und so erhärtet sich der Verdacht, dass Anna nur eine der vielen weiblichen Figuren ist, die der Darstellung männlicher Bildungsprozesse dient, denn stets scheint sie auf ihren Objektstatus als potenzielle Ehefrau verwiesen zu werden. Allerdings ließe sich ihr Übertritt auf den Kahn bzw. in ein anderes Leben auch als Akt verstehen, zu dem die beiden Männer selbst nicht fähig waren. Und damit wäre sie, um die es in dem Sinne gar nicht geht, den unreifen Junggesellen einen Schritt voraus, denn diese bleiben wo sie sind: Unter den Brücken. Zuletzt hängt Anna allerdings die Wäsche der beiden Männer auf einer über den Kahn gespannten Leine auf und übernimmt so die Rolle der kümmernden mütterlichen Hausfrau. Ob sie mit dem Grenzübertritt ihren Objektstatus verlässt, bleibt demnach zu diskutieren. Klar ist jedoch, dass es sich hier wiederum um eine Frage der (männlichen) Perspektive handelt.
Käutners Film widmet sich einem Thema abseits des alltagsbeherrschenden Krieges, der in der Zeit seiner Produktion im Jahr 1944 noch nicht beendet war. Es geht um das Überschreiten einer Grenze, um zusammenzukommen und gemeinsam in einen neuen Lebensabschnitt überzugehen. Handelt es sich demnach um eine Produktion leichter Unterhaltung, um den propagandistisch motivierten Versuch der Ablenkung vom Krieg? Bei Betrachtung der Biographie Käutners, der bereits mit seinem Filmdebüt Kitty und die Weltkonferenz im Jahr 1939 die nationalsozialistische Zensur auf den Plan rief, wird hingegen deutlich, dass es auch hier eines genaueren Blickes bedarf – oder besser gesagt: Eines bewussten Blickes, der neben dem, was zu sehen ist, auch das Nichtzusehende, das Abwesende, erfasst. Statt zerbombter Häuser sind Brücken zu sehen, sinnbildliche Übergänge, deren Relevanz auch während des Krieges nicht abgenommen hat. Statt heroischer Darstellungen Kriegsdienst leistender Männer werden zwei wegen einer Frau miteinander zerstrittene große Jungen vorgeführt. Weder findet sich nationalsozialistisches Propagandamaterial noch werden gesellschaftliche Folgen des Krieges sichtbar gemacht. Käutner setzt an dessen Stelle eine Parallelwelt ohne Krieg, einen Sehnsuchtsort, der die Menschen selbst in den Blick nimmt und nicht die Politik. Hier ist alles möglich, auch eine glückliche Dreierkonstellation auf einem Lastenkahn, die der nationalsozialistischen Regierung zuwider gewesen sein dürfte – schließlich wird das klassische Familienmodell der eigenen Ideologie im wahrsten Sinne des Wortes über Bord geworfen. Über die Reaktion der Zensur lassen sich nur Mutmaßungen anstellen, schließlich verzögerte sich die Premiere aufgrund der kriegsbedingten Umstände bis zum Jahr 1950. Sicher ist allerdings, dass die Erweiterung der Perspektive sich auch auf eine mögliche Welt abseits nationalsozialistischer Ideologie richtet.
Was auf den ersten Blick wie eine klassische Liebesromanze daher kommt, erweist sich auf den zweiten als vieldimensionales Werk, das die gestalterischen Möglichkeiten von Licht und Kamera voll ausschöpft. Käutner erweitert die Perspektive, indem er Zwischenräumen, sei es zwischen Brücke und Fluss, zwischen Konformität und Widerstand oder aber zwischen den Menschen, Raum gibt. Ein Raum, in dem sich das Unkonventionelle und das Vieldeutige entfalten können, in dem Rollenbilder und klassische Schemata in Frage gestellt werden. Das Ergebnis ist ein sehnsuchtsvoller Entwurf einer Welt abseits nationalsozialistischer Vorgaben, einer Welt der individuellen Möglichkeiten.