DenkZettel I: Andreas Eschbach – Eines Menschen Flügel

Die Steilküste am Nordende der Muschelbucht, an der Kalsul herumkletterte, war feucht und rutschig und stank nach Vogelkacke. Fünfzig Längen unter ihr manscht das Meer an die Felswand, grau in grau und so träge, als hätte es heute auch keine Lust, sich zu bewegen, genauso wenig wie sie.

Erwischt.
Hier gibt es zwar weder Steilküsten, noch Buchten oder gar ein Meer und es riecht nach Tannenbaum und Tee, aber träge, das bin ich auch. Außer des Tees habe ich ein Buch, das ich vor ein paar Tagen angefangen habe, mit in mein Decken-Nest genommen: Andreas Eschbachs neuesten Roman Eines Menschen Flügel, der Ende September 2020 erschienen ist. Bisher lag der dicke Wälzer anklagend auf dem Bücherregal, denn zu viele Lektüren wollten vorher noch abgeschlossen werden. Aber jetzt, endlich, als der Regen grau in grau vor die Fensterscheiben manscht, ist es so weit.

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von Lara Ehlis

Eschbachs Romane treffen normalerweise genau meinen Lesegeschmack, aus dem Repertoire seiner zahlreichen Bücher gibt es nur wenige, die mir nicht gefallen. Bisher am meisten und nachhaltigsten fasziniert hat mich Die Haarteppichknüpfer (1995): Zwar hat dieser Science Fiction-Roman nicht so einen gewaltigen Umfang wie viele andere Bücher Eschbachs, dennoch ist die fragmentarisch erzählte Story vielschichtig und ergibt ein eine ganze Galaxis umspannendes großes Ganzes.

Doch zurück zu der Neuerscheinung mit dem rätselhaften Titel und der schönen Zeichnung auf dem Cover. Bereits der Klappentext legt nahe, dass man es mit einer Fantasy-Science Fiction-Erzählung zu tun haben wird, denn er gibt einen Ausblick auf gentechnisch veränderte und mit Flügeln ausgestattete Menschen, die mit einer unbekannten, mörderischen Entität koexistieren. Bei aller Abneigung gegen nichtssagende oder gar fehlleitende Klappentexte, muss ich in diesem Fall zugeben, dass er gut gelungen ist. Er verspricht nichts, was die Erzählung nicht halten kann, und verrät nicht zu viel von der Handlung.

Ich habe zwar erst ein Drittel des insgesamt mehr als 1200 Seiten umfassenden Romans gelesen, doch bislang ist Eines Menschen Flügel genau das, was ich von einer guten Lektüre erwarte: Die Sprache ist einfallsreich und geht Hand in Hand mit der von Eschbach erdachten Zivilisation auf einem fremden Planeten und der unbekannten Umwelt. An manchen Stellen sind die Beschreibungen der mal tropisch-üppigen, mal rauen, wind- und wettergepeitschten Landschaften reichhaltig und doch nicht überbordend, als solle kein Detail den Leser*innen vorenthalten werden. Bei der erzählten Welt handelt es sich um eines jener Szenarien, die die Kraft besitzen, die*den Lesende*n völlig für sich einzunehmen.
Andere Zeilen beschreiben präzise, was der jeweilige Protagonist oder die jeweilige Protagonistin erlebt und erfährt. Da der Fokus auf die Charaktere von Kapitel zu Kapitel wechselt, werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Standpunkte dargestellt. Eschbach lässt sich Zeit dabei, die Geschichte zu entwickeln, sodass die*der Leser*in mit den Figuren die Hintergründe der Lebensumstände kennen lernt und die Erzählwelt – aus der Vogelperspektive – erkundet.

Das ist besonders angenehm, kann ich die Erkundung doch vornehmen, ohne mein Nest  verlassen zu müssen. Der Regen ist mittlerweile in Schneeregen übergegangen, ich blättere auf die nächste Seite um und lese noch ein Weilchen.

*Beim „DenkZettel“ handelt es sich um ein neues Format, in dem unsere Redakteur*innen denk-würdige Momente aus ihren Leben mit Büchern teilen.