Theater im Wuppertal der 1920er: Ein Gespräch mit Michael Okroy

Historisches Foto (Postkarte) des Stadttheaters Barmen um 1910. Abbildung: Slg. Michael Okroy

Wie sich die Theater in Barmen und Elberfeld in den Jahren der Weimarer Republik entwickelten, welche Akteure das Bühnengeschehen im Wuppertal prägten und welche Stücke für Furore sorgten, weiß der Literatur- und Sozialwissenschaftler Michael Okroy zu berichten.

LARISSA PLATH: Was bedeutete die Fusion der beiden Bühnen Barmen und Elberfeld zum „Vereinigten Stadttheater Barmen-Elberfeld“ im Jahr 1919?

MICHAEL OKROY: Diese Fusion wurde 1917 beschlossen und war der vierte Anlauf, zwei bis dahin selbständige Theaterinstitutionen zusammenzubringen. Das war ein irres Unterfangen, denn beide Städte waren recht groß mit jeweils über 150.000 Einwohnern, waren Schwesterstädte und lagen nur wenige Kilometer auseinander, verfügten aber über identische Ressourcen was das Theaterleben angeht. Barmen und Elberfeld hatten beide ein eigenes großes Schauspielensemble, ein Opernensemble und ein Operettenensemble. Beides waren große Häuser mit einer guten Mannschaft und standen dadurch in einer teils auch erbitterten Konkurrenz zueinander. Andererseits konnten sie auch Ressourcen austauschen, auf Dauer war das aber kein haltbarer Zustand. Die erste Bühnenfusion gab es schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, es hat aber nie über einen längeren Zeitraum funktioniert, auch weil beide Städte in gewissen Animositäten zueinander standen. Aus heutiger Sicht kann man sich das kaum vorstellen. Von außen wurden die beiden Städte viel häufiger als eine Stadt, als „Wuppertal“ wahrgenommen, ohne dass es den Begriff so schon gab, aus der Innenperspektive selber waren die Städte getrennt, obwohl sie so nah beieinander waren.

Der Brausenwerther Platz in Elberfeld mit dem Stadttheater in der Mitte. Public Domain via Wikimedia Commons

Einen Schub hat diese dann letztlich erfolgreiche Fusion durch den Ersten Weltkrieg bekommen, weil dadurch alle Ressourcen ziemlich stark angegriffen waren und sich dies in vielfältigster Weise niedergeschlagen hat – in Einschränkungen des Spielplans, in der Reduzierung der Ensembles. Es gab kein Kriegsgeschehen auf deutschem Boden, aber die Gesellschaft war mental komplett ausgezehrt. Die Menschen litten unter extremer Nahrungsmittelknappheit, die Städte waren finanziell am Ende. Es war also nur folgerichtig, das Projekt einer Fusion noch einmal anzugehen. Es wäre beinah gescheitert, die Stimme des Barmer Oberbürgermeisters gab den Ausschlag, der das Vorhaben rettete. Aus heutiger Sicht kann man wohl die „Vereinigten Stadttheater Barmen-Elberfeld“ als eine Art prophetischer Vorwegnahme der 1929 erfolgten Vereinigung der beiden Städte zu Wuppertal betrachten.

PLATH: Welche künstlerische Ausrichtung wurde in den Häusern in Barmen und Elberfeld verfolgt? Fand eine Aufteilung der verschiedenen Sparten – Oper, Schauspiel, Operette – auf die beiden Theater statt?

OKROY: Eine Aufteilung wäre sicherlich sinnvoll gewesen. Diese stärkere, auch ressourcenschonende und logistisch sinnvollere Trennung ist aber erst viele Jahre später erfolgt, als man die beiden Theater in „Städtische Bühnen Wuppertal“ umbenannt hat. Das geschah 1929, als auf Druck der preußischen Regierung aus Barmen, Elberfeld, Vohwinkel, Ronsdorf und Cronenberg die neue Stadt Wuppertal wurde. Danach erst ist eine sinnvolle Aufteilung der Sparten vorgenommen worden. Elberfeld profilierte sich primär als Schauspielstandort, im Barmer Haus wurden überwiegend Opern gespielt.

Das Stadttheater Barmen (heutige Opernhaus) nach der Fertigstellung 1905. Public Domain via Wikimedia Commons

Was die künstlerische Ausrichtung in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht angeht, bin ich in den Quellen auf sehr unterschiedliche, teils scheinbar widersprüchliche Informationen gestoßen. Es gab noch eine aus der Vorkriegszeit herrührende stark konservativ und bürgerlich geprägte Programmausrichtung. Die Oper als Kunstform ist ja selbst eine klassische Errungenschaft des Bürgertums, durchaus im positiven Sinn: Damit befreite es sich, gerade auch hier in Wuppertal, von den Fesseln religiöser Bevormundung und erschloss sich über das rein geschäftlich-unternehmerische hinaus neue sinnliche und geistige Horizonte. Das war im sehr protestantisch und lange Zeit extrem theaterfeindlich geprägten Wuppertal bis weit in das 19. Jahrhundert immer schwierig gewesen. Aber schon vor dem Ersten Weltkrieg, also noch im Kaiserreich, gab es hier eine Blütezeit mit damals zeitgenössischen und anspruchsvollen Aufführungen. Barmen und Elberfeld waren sehr offen gerade für musikalische Novitäten. Im Schauspiel gab es dagegen eher ein klassisch-konventionelles Programm.

In den 1920er Jahren öffneten sich beide Häuser stärker für moderne und neue Stücke, wenn auch dosiert. Der vor 1914 schon einsetzende ungeheure Dynamisierungsprozess, was die Entfaltung und Entwicklung der Künste betrifft, zeigte sich auch im Wuppertal, etwa im Bühnenbild und in neuen Kompositionen oder Stücken, um die sich die Häuser bemühten. Unmittelbar nach dem Krieg aber stand eher so etwas wie eine Art moralische Wiederaufrichtung auf dem Programm. Viele erlebten den verlorenen Krieg als traumatische Niederlage und waren weit entfernt von Einsicht und einer selbstkritischen Aufarbeitung. Das Kriegsende mündete in heftige politische Auseinandersetzungen und einen Kampf um Deutungshoheit und führte zu einem radikalen Systemwechsel – von der Monarchie zur Demokratie, der ersten in Deutschland. All das spiegelte sich in den Theatern. In den Metropolen eher und drastischer. Aber auch in der so genannten Provinz oder in mittleren Großstädten wie Barmen und Elberfeld.

PLATH: Paul Legband, der von Max Reinhardt ans Deutsche Theater Berlin berufen wurde und dort bis 1911 Leiter der Schauspielschule war, trat in der Spielzeit 1921 seine Intendanz in Barmen-Elberfeld an. Welche Rolle hat Legband für die Entwicklung der Bühnen gespielt? Hat er Neuerungen angestoßen, oder sich an einem eher klassischen Programm orientiert?

OKROY: Ich glaube, Legband war für Wuppertal die richtige und auch passende Person. Wuppertal ist, teilweise noch bis heute, eine Stadt, die sich einerseits sehr stark Konventionen verbunden fühlt, sich andererseits immer offen gezeigt hat und offen geblieben ist, was Innovationen angeht; eine Region, die kreative Leute hervorgebracht oder angezogen hat, die etwas gewagt haben. Das muss aber halbwegs kompatibel sein mit einem Publikum, das bereit ist, darauf positiv zu reagieren, und dieses Publikum hat es durchaus schon frühzeitig gegeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die radikal modernen und verstörenden Operneinakter Salome und Elektra von Richard Strauss zu richtigen Bühnenrennern wurden und vom damaligen Premierenpublikum gefeiert wurden und alle Folgeaufführungen ausverkauft waren. Wenn wir von Premierenpublikum reden, dann reden wir von mindestens 2000 Leuten, die in beiden Häusern diesen Ereignissen beigewohnt haben. Überhaupt ist die enorme Auslastung der beiden großen Theaterhäuser vor 1914 aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbar.

Paul Legband war stark der „Volksbühnenbewegung“ verbunden, eine Idee, die er aus Berlin mitgebracht hat. Es ging darum, das Theater für neue Publikumsschichten zu öffnen. Vor dem Ersten Weltkrieg strömte ein primär bürgerlich-gehobenes Publikum, das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, in die Theater, dazu noch sozial und ökonomisch aufwärts strebende, kulturinteressierte Menschen aus den „unteren“ Schichten. Die Idee der „Volksbühne“ war genuin sozialdemokratisch initiiert und in Wuppertal sehr erfolgreich. Es gab hier ein sehr wohlhabendes und selbstbewußtes bürgerliches Publikum auf der einen Seite, auf der anderen ein gut organisiertes und sich auch für die so genannte Hochkultur interessierendes Publikum aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu. Die Mitgliedszahlen in der „Volksbühne“ waren in Wuppertal enorm hoch. Als Besucherorganisation bildete sie eine tragende Stütze der Wuppertaler Theater. Die Zwanziger Jahre stehen nicht nur für extreme politische und ökonomische Krisensituationen. Auch die Theater standen immer wieder zur Disposition: wegen Anfeindungen von rechts oder radikal gekürzter Budgets. Diesen Gefährdungen waren auch die „Vereinigten Stadttheater Barmen-Elberfeld“ ausgesetzt, vor allem während der Inflation oder der Weltwirtschaftskrise. Paul Legband hat ganz offensichtlich in den stabilen Jahren der Republik mit seiner Intendanz eine gute Strategie entwickelt. Sie bestand aus einer klugen Mischung aus Populärem und hoch Anspruchsvollem – im Schauspiel, im Musiktheater und in der Operette. Außerdem besaß er unbestreitbar ein gutes Händchen für interessantes und kreativ-innovatives Leitungspersonal. Sein größter Geniestreich in dieser Hinsicht war das Engagement des jungen Max Ophüls.

Titelbild des Theateralmanachs der „Vereinigten Stadttheater“ von
1924/25. Abbildung: Slg. Michael Okroy

PLATH: Welche anderen Namen waren – neben Legband und Ophüls – zu dieser Zeit mit den beiden Theatern verbunden oder prägten das lokale kulturelle Geschehen? Gab es Künstler, die auch außerhalb der Region für Aufmerksamkeit sorgten?

OKROY: Manche von ihnen sind erst nach ihren Wuppertaler Engagements berühmt geworden. Wenn man zu diesem früheren Zeitpunkt noch nicht wusste, dass es herausragende Leute sind, war man darauf angewiesen, dass jemand von außen und über die Bergische Region hinaus darüber berichtet hat. Bei Max Ophüls ist das so gewesen und auch bei einigen Aufführungen bedeutender Werke, zum Beispiel von Richard Wagners monumentalem Ring des Nibelungen. Das war gerade für mittlere Häuser wie Barmen oder Elberfeld stets eine Mammutaufgabe und große Herausforderung. Im ganzen Kulturbereich wurde man aufmerksam, wenn ein Ring neu aufgeführt wurde, auch über das konservative und deutschnational gesinnte Stammpublikum hinaus. Als 1921 ein junger Kapellmeister mit Namen Erich Kleiber, später einer der weltweit angesehensten Dirigenten, das Werk im Barmer Haus dirigierte, ließ das aufhorchen. Mich hat fasziniert, mit welch hohem Sachverstand damals lokale Theaterkritiken oft verfasst wurden. Das waren nicht nur getreue Wiedergaben, sondern oft extrem kundige und differenzierte Kommentare. Eine gute, auf hohem Niveau geschriebene Kritik sprach sich herum. Wenn etwa Erich Kleiber in Barmen eine Sinfonie von Gustav Mahler dirigierte, dann war das für damalige Verhältnisse durchaus aufsehenerregend, denn Mahlers Werke waren seinerzeit alles andere als salonfähig auf Deutschlands Musikbühnen.

Eines der angesehensten Feuilletons der Weimarer Republik, der Berliner Börsen-Courier, hat die Wuppertaler Operetten-Spielzeit 1924/25 unter Max Ophüls und die von ihm verantwortete Operettenintendanz und -dramaturgie in Wuppertal als das Beste der Saison bezeichnet. Man spürte, dass das etwas anderes war als der Durchschnitt. Operetten sind zu dieser Zeit durch das Radio absolut populär geworden und ein ‚Must‘ auf allen deutschen Bühnen gewesen. Allein schon wegen der Einnahmegarantien. Sie waren auch noch nicht so übel beleumundet wie heute und als Kitsch verschrien, damals musste man sich dafür kaum rechtfertigen, sie waren einfach sichere und gut funktionierende Massenprodukte ihrer Zeit. Es gab gute, intelligente Operetten und auch miserable, so auch in Wuppertal. Oft kam es auf die Inszenierung an, auf die musikalische Realisierung und das Personal.

PLATH: Also war Wuppertal schon damals – wie auch in späteren Jahrzehnten – ein guter Ausgangspunkt für viele Künstlerinnen und Künstler?

OKROY: Wuppertal war für einige ein regelrechtes Sprungbrett, um nach oben zu kommen. Erich Kleiber ist ein sehr gutes Beispiel. Als er 1919 in Barmen-Elberfeld startete, war er ein noch weitestgehend unbekannter junger Dirigent, ist dann über zwei Stationen nach Düsseldorf und Mannheim gleich an die Berliner Staatsoper gelangt und zum Generalmusikdirektor der Metropolen-Bühne ernannt worden. Er hat dort auch zeitgenössische Werke wie Alban Bergs Wozzeck uraufgeführt und wurde in dieser kurzen Zeit von 1919/20 bis 1924/25 ein absolut gefragter, berühmter Dirigent. Barmen-Elberfeld war da eine ganz wichtige Station. Auch Hans Schmidt-Isserstedt, ein international namhafter Dirigent, und Franz von Hoesslin, ein sehr gefragter Wagner-Dirigent, hatten Zwischenstation in Wuppertal gemacht. Das waren die zwei einander bedingenden Aspekte: einmal Wuppertal bekannter und bedeutender zu machen und gleichzeitig die eigene Karriere zu befördern. Sie waren schon bekannt, wurden engagiert, blieben eine Weile hier im Wuppertal und zogen dann irgendwann weiter. Einen anderen, eher unfreiwilligen Karriereweg nahm der Operettenkapellmeisters Franz Allers. Er arbeitete schon seit 1926 in Barmen und wurde als Jude 1933 von den Nazis entlassen. Über die Tschechoslowakei gelangte er ins Exil in den USA, dirigierte in den 1940/50er Jahren an der New York Met und leitete 1956 am legendären Broadway die Uraufführung des weltweit erfolgreichen Musicals My Fair Lady.

PLATH: Wie spiegelte sich der Zeitgeist der Zwanziger Jahre in den Inszenierungen und in den Spielplänen wider? Gab es bekannte Inszenierungen in Barmen und Elberfeld, die für Aufmerksamkeit sorgten oder neue Maßstäbe setzten?

OKROY: Barmen-Elberfeld kann man, verglichen mit den klassischen Theaterstädten der Weimarer Republik, als eine gehobene Provinzbühne betrachten, die sich aber in diesem Segment ganz gut etablierte und das Niveau durch interessante Leute und durch die Teilhabe an Innovationen halten konnte. Eine dieser gravierenden Veränderungen in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht machte sich beispielsweise im Bühnenbild bemerkbar. Die Ästhetik der Vorkriegszeit war eine sehr konservativ-überladene, naturalistische, oder im fantastischen Bereich sich abspielende Bühnenbildkunst. In der Weimarer Republik war sie teilweise viel abstrakter, zugespitzter, angelehnt an die künstlerischen Entwicklungen im Bereich der darstellenden Kunst. Sie war vielmehr darum bemüht, nicht bloß abzubilden, sondern auch eine eigene Deutung mitzuliefern oder eine bestimmte Deutung zu unterstützen.

Einer der auch in Wuppertal einen wichtigen Karriereschritt gemacht hat, war Georg Salter. Für zwei, drei Spielzeiten war er an den Bühnen tätig und wurde ab Mitte der Zwanziger Jahre zu einem der berühmtesten Buchillustratoren der Weimarer Republik. Bibliophile Menschen werden mit den Buchumschlägen von Georg Salter bis heute etwas anfangen können, ob das nun Kafkas Schloss ist oder Berlin Alexanderplatz, Arthur Schnitzler oder Joseph Roth.

Interessant sind zwei Ereignisse, die symptomatisch für die Zeit waren. Diese fanden in der Mitte der 1920er Jahre statt, einer vergleichsweise stabilen Phase der stets von linken und rechten Kräften angegriffenen Weimarer Republik. Schon 1928 änderten sich die Verhältnisse wieder, auch wegen der erstarkenden NSDAP. Sie befand sich damals auf ihrem Siegeszug hin zu einer Massenpartei. Das Bürgertum, ein klassisches Klientel im Theater, polarisierte sich auch sehr stark: Es gab ein bürgerlich-liberales Lager, aber auch ein rechtskonservativ, deutschnational und völkisch orientiertes bürgerliches Lager, und beide haben entsprechend auf künstlerische Ereignisse auf den Bühnen in Barmen und Elberfeld reagiert.

Die Umschlagseite der Erstausgabe des Klavierauszuges von Jonny spielt auf. Design: Arthur Stadler (1892-1937), Public Domain via Wikimedia Commons

Ein Beispiel ist die Aufführung von Jonny spielt auf von Ernst Křenek, das, was man vom Genre her als Zeitoper bezeichnet, ein absolut populäres Stück und 1927 uraufgeführt. Eine Oper, die Zeitgenössisches auf die Bühne bringt – mit Telefon, Flugzeugen, Radio –, und einer veränderten Bühnensituation, in der ein schwarzer Musiker, Jonny, eine der Figuren im Mittelpunkt ist. Die Musik vermischt Spätromantisches mit Puccini Verwandtem und mit jazzorientierten Klängen, man wird ständig musikalischen Wechselbädern ausgesetzt. Diese Musik kam extrem gut an beim Publikum. Die deutschen Bühnen rissen sich um das Stück, Barmen und Elberfeld waren auch dabei und Barmen bekam schließlich den Zuschlag, hat es 1928 aufgeführt und gleich die Deutschnationalen und die rechte Kulturfraktion auf den Plan gerufen. Man echauffierte sich darüber, dass ein Schwarzer auf der Bühne stand. Zum Rassismus kommt noch eine zeitspezifische Sache dazu: Es hatte mit der Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg zu tun, die sich bis in die späten Zwanziger Jahre hinzog. Unter den französischen Besatzungssoldaten befanden sich auch viele Soldaten aus den französischen Kolonien. Nationalistisches, Rassismus und Kritik an der Moderne kommen hier zusammen und äußern sich in einer vehementen Kritik an dieser Aufführung, in der man eine angebliche „Verherrlichung der Negerkultur“ erkennen wollte. Dort sah man die politischen Unruhen auf der Bühne gespiegelt. Etwas Ähnliches gab es noch einmal bei einer Tränengasattacke 1932, weil eine javanische Sängerin die Salome von Richard Strauss auf der Bühne verkörpert hat. Das war eine Art Vorschein auf den Machtantritt der Nationalsozialisten ein Jahr später.

Ab Mitte der 1920er Jahre präsentierte sich auf der Schauspielbühne eine Mischung aus klassischem Repertoiretheater, populär Zeitgenössischem und Naturalismus – Hauptmann, Holz, Strindberg. Hin und wieder auch zeitkritische Stücke, zum Beispiel von Georg Kaiser, die sich ganz aktuell mit dem Ersten Weltkrieg auseinander gesetzt haben. Auf der Musiktheaterbühne war es ähnlich, dort überwogen die absoluten Lieblinge aller Opernfans: Verdi, Wagner, Puccini. Mozart rangierte relativ weit unten, die Vorliebe für Mozart war damals noch nicht so verbreitet. Es kam immer wieder auch Zeitgenössisches dazu, zum Beispiel Paul Hindemith. Hindemith galt in den frühen Zwanziger Jahren als absoluter Bürgerschreck. Er hatte mit zwei Opern-Einaktern für Furore gesorgt. Ihr erotisch-obszöner Inhalt, aber auch die Musik, provozierten und polarisierten das damalige Theaterpublikum und scheuchten es ziemlich auf. Ganz kurz nach der Uraufführung fand 1926 in Wuppertal die Erstaufführung von Cardillac, seines ersten größeren Opernwerkes, statt, und das muss ein Meilenstein gewesen sein in der Interpretation eines zeitgenössischen Opernwerks mit einem damals schon bürgerlicher werdenden Komponisten, der aber als Vertreter einer Neuen Sachlichkeit galt.

PLATH: Gibt es Besonderheiten, auf die Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch gestoßen sind? Etwas, das Sie überrascht oder auch verwundert hat?

„4. Belästige deine Nachbarn – nach dem Gesehenen – nicht sofort mit lautgeführter Kritik.“

aus: „Die Zehn Gebote des Theaterbesuchers“

OKROY: Bei meinen Recherchen bin auf die „Zehn Gebote des Theaterbesuchers“ gestoßen. Sie stammen aus der Spielzeit 1924/25 und wurden von der Intendanz unter Paul Legband den Programmheften beigelegt. Sie sind ein schönes, unterhaltsames und auch sehr aufschlussreiches Dokument für die Umbrüche im Theater jener Jahre. Sie richten sich u.a. an ein neues Publikum, dem die Rituale und Gepflogenheiten beim Theaterbesuch offenbar noch unvertraut waren, das noch nicht kulturbürgerlich sozialisiert war. Zugleich reagieren sie aber auch auf ein Publikum, das scheinbar selbstbewusster, aber auch weniger respektvoll und ‚gesittet‘ auf Theaterereignisse reagierte, gleich aus welcher gesellschaftlichen Schicht es stammt. Manches davon lässt sich durchaus 1:1 auf die heutige Zeit übertragen. Man kann diese „Zehn Gebote“ auf jeden Fall als einen Versuch lesen, in volkspädagogischer Absicht und in gutem Sinne auf das Theaterpublikum erzieherisch einzuwirken. Ich habe mich beim Lesen jedenfalls auch köstlich amüsiert.


Zur Person:

Michael Okroy studierte Literatur- und Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität in Wuppertal. Seit 2000 ist er freiberuflich im Bereich Vermittlung, Dokumentation und Recherche zu Themen der Zeit- und Kulturgeschichte tätig. Seit 2013 arbeitet er in der Verwaltung am Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Michael Okroy gehört dem Beirat des Bergischen Geschichtsvereins, Abteilung Wuppertal, an.

Literatur zum Thema:

Michael Okroy: „…damit die Träume atmen können“. Vom Stadttheater Barmen zum Opernhaus Wuppertal. J. H. Born-Verlag, Wuppertal 2009.