„Funken und Splitter wie blitzblanker Stahl“: Die literarische Welt der Clarice Lispector

Die Schriftstellerin Clarice Lispector. Foto: Maureen Bisilliat via Wikimedia Commons.

Zur Wiederentdeckung einer Schriftstellerin, die zu ihren Lebzeiten als Ikone galt und deren unvergleichbares literarisches Werk bis heute fasziniert.

von Larissa Plath

Wäre es nach ihr gegangen, so würde sich ihr Geburtstag nicht in diesen Tagen zum hundertsten Mal jähren, sondern erst 1925 – das Jahr, das die brasilianische Autorin Clarice Lispector (1920-1977) Zeit ihres Lebens als Geburtsjahr angab. Erst spät wurden die Umstände ihrer Herkunft als Tochter jüdisch-ukrainischer Eltern und die Flucht der Familie vor Progromen in der Öffentlichkeit bekannt. Clarice Lispector galt als intellektuelle Schönheit, als rätselhaft, geheimnisvoll und von einer mystischen Aura umgeben. Dieses Bild, in gewisser Weise auch von ihr selbst bestätigt, war wohl vor allem dem männlichen Blick auf eine schreibende Frau innerhalb der literarischen Welt geschuldet und hält sich bis heute. Hundert Jahre nach ihrer Geburt und knapp vier Jahrzehnte nach ihrem Tod wird das Werk Clarice Lispectors endlich auch außerhalb ihrer selbst ernannten Heimat Brasilien wiederentdeckt und rezipiert.

Der im letzten Jahr erschienene erste Band ihrer gesammelten Erzählungen, Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau, beginnt mit frühen Texten aus den 1940ern und bildet ein breites Spektrum dessen ab, was Clarice Lispectors Erzählen ausmacht. In den oft nur ein paar Seiten umfassenden Texten gelingt es ihr, die eigentümliche Stimmung mit wenigen Sätzen spürbar zu machen. Es sind meist Frauen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen, trotzdem sind Clarice Lispectors Texte nicht rein autobiographisch zu lesen. Oft tun sich im bürgerlichen Leben ihrer Charaktere unvermutet Risse auf. So erfährt es auch die weibliche Hauptfigur in der Erzählung „Liebe“: Eine alltägliche, banal erscheinende Situation bringt das wohlgeordnete Leben von Ana, einer Ehefrau und Mutter, aus dem Gleichgewicht. Auf dem Heimweg in der Straßenbahn, die Einkäufe auf dem Schoß, sind es der Anblick eines blinden Mannes, der Kaugummi kaut, ein ruckartiges Bremsen und die zu Bruch gegangenen Eier in der Stricktasche – und Ana verliert die Fassung. „Das Gewebe hatte seinen Sinn verloren, und in einer Straßenbahn zu sitzen, war ein abgerissener Faden […]“. Bei Lispector bricht Absurdes, Skurriles, oft Abgründiges in den nüchternen Alltag und die Realität der Figuren ein und legt Widersprüche der menschlichen Existenz offen.

Lispectors Werke sind faszinierend in ihrer Vielstimmigkeit, kaum fassbar und unvergleichbar. Ihre Texte wirken wie eine nie abgeschlossene Suche, es herrscht ständige Bewegung, Zusammenhänge verschieben sich, legen neue Bedeutungen frei; das Erzählte mag irritierend sein, befremdlich, gar unzugänglich, dabei auch humorvoll, komisch und ironisch. Grammatikalische Brüche, Wiederholungen, schiefe Bilder und Widersprüche zeugen von ihrem ganz eigenen Umgang mit der Sprache und machen den Ton ihrer Erzählungen und Romane aus. Obgleich diese stilistischen Besonderheiten auch in den deutschen Übersetzungen erkennbar sind, prägen sie vor allem die Originaltexte. Zeitlebens bezeichnet Clarice Lispector Portugiesisch als ihre Sprache und Brasilien als ihre Heimat.

Geboren wurde sie 1920 als Chaja Lispector in Tschetschelnyk in der heutigen Ukraine. Als sie wenige Monate alt war, flohen die Eltern mit ihr und ihren beiden Schwestern vor antisemitischen Pogromen und kamen über Umwege schließlich nach Brasilien. Die Familie nahm bei ihrer Ankunft neue Namen an, aus Chaja wurde Clarice. Sie wuchs im ärmlichen Nordosten des Landes auf, später zog sie nach Rio de Janeiro, begann ein Jurastudium, arbeitete als Journalistin. Ihre Ehe mit einem Diplomaten führte sie an verschiedene Stationen in Europa und in den USA, unter anderem lebte sie in Bern und in Washington, D.C.. Lispector bekam zwei Söhne und kehrte, nachdem sie ihren Mann verlassen hatte, 1959 nach Brasilien zurück. Ihren schon damals erfolgreichen Debütroman Nahe dem wilden Herzen veröffentlichte sie bereits 1943, ihr nächster Roman Der Lüster erschien drei Jahre später. Zahlreiche weitere Romane und Erzählungen sollten folgen.

In Brasilien war Clarice Lispector zu Lebzeiten eine Ikone. Damals gehörte die US-amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop zu den ersten, die ihre Erzählungen ins Englische übersetzten. Nach Lispectors Tod 1977 wurde sie in Brasilien wie auch im Rest der Welt nur noch als literarischer Geheimtipp gehandelt; sie tauchte vermehrt in Schriften der französischen Feministin Hélène Cixous auf, viele ihrer literarischen Werke erschienen in den 1980ern und 1990ern auch auf Deutsch. Trotzdem zählt sie heute zu den Autorinnen, die erst im Zuge literaturwissenschaftlich-feministischer und literaturkritischer Bestrebungen wiederentdeckt werden und ins Bewusstsein einer breiten Leserschaft gerückt werden müssen. Clarice Lispectors Werk wird oft mit dem von Virginia Woolf, Franz Kafka, Katherine Mansfield oder James Joyce verglichen. Ob diese Einordnungen in eine literarische Tradition einer genaueren Prüfung wirklich standhalten, ist die Frage. „Letztlich steht Clarice Lispector ausserhalb jedweden Vergleichs – ihre Einzigartigkeit, ihre ungeschlachte Grossartigkeit beruht gerade darauf, dass sie sich, obwohl weitläufig belesen, von Einflüssen souverän freigehalten hat“1, schlussfolgert Felix Philipp Ingold in diesem Zusammenhang. Vielleicht ist genau diese Einzigartigkeit einer der Gründe, warum das sperrige Werk Lispectors lange Zeit unbeachtet geblieben ist und erst jetzt wieder in den Mittelpunkt des literarischen Interesses gelangt.

Die aktuelle Phase der Lispector-Wiederentdeckung beginnt mit der 2009 in den USA und vier Jahre später in Deutschland veröffentlichten Biographie des amerikanischen Journalisten Benjamin Moser. Zu diesem Zeitpunkt existieren nur wenige Texte Lispectors in englischer Fassung – Grund genug für Moser, als Übersetzer und Herausgeber eine Neuübersetzung ihrer Werke anzustoßen. Hierzulande liegen zum jetzigen Zeitpunkt mit Nahe dem wilden Herzen, Der Lüster und Der große Augenblick drei Romane Lispectors in neuer Übersetzung von Luis Ruby beim Schöffling Verlag vor. Die gesammelten Erzählungen in zwei Bänden sind rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Autorin bei Penguin erschienen: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau und Aber es wird regnen. Es bleiben mehrere Romane, die zuletzt in den 1980ern und 1990ern herausgeben wurden – darunter auch ihr oftmals als Meisterstück gehandelter Roman Água viva (1973) – viele Texte Lispectors sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden.

In Lispectors letztem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman Der große Augenblick reflektiert der Erzähler Rodrigo S.M. beständig über seine Rolle als Schriftsteller und über das Erzählen selbst. Macabéa ist die weibliche Hauptfigur der Geschichte, die er erzählen will: Die junge Frau lebt im Elend der Hafengegend von Rio, wo sie sich ein Zimmer mit drei anderen Frauen teilt und sich als Schreibkraft durchschlägt. Macabéa ist unschuldig und unwissend, und doch gelangt sie in ihren naiv wirkenden Äußerungen zum Wesentlichen, drückt in einer beinah kindlichen Art aus, was andere nicht zu sehen vermögen, was übersehen wird. „Ich werde mich so vermissen, wenn ich sterbe,“ sagt sie an einer Stelle und nimmt damit ihr Schicksal vorweg, was sie am Ende ihrer zutiefst traurigen Geschichte ereilen wird. Wirklich greifbar wird Macabéa weder bei der Lektüre des Romans noch für ihren Schöpfer Rodrigo, der sich ihr immer wieder nähert und entfernt, abdriftet und das gerade Erzählte hinterfragt. „Was mir das Leben schwermacht, ist das Schreiben“, heißt es in der Widmung, die dem Roman vorangestellt ist.

„Nein, Schreiben ist nicht einfach. Es ist hart wie das Zertrümmern von Felsbrocken. Aber da fliegen Funken und Splitter wie blitzblanker Stahl.“

(aus: Clarice Lispector, Der große Augenblick)

In den Texten von Clarice Lispector fliegen diese Funken und Splitter in ungeahnte Richtungen. Dort, wo sie liegen bleiben, bilden sie faszinierend eigenwillige Muster, die darauf warten, entdeckt zu werden.

1. Felix Philipp Ingold: „Ums Leben schreiben (NZZ, 28. Dezember 2013)“, https://www.nzz.ch/ums-leben-schreiben-1.18211495 (zuletzt abgerufen am 10. Dezember 2020).


Weitere Quellen:

Interview with Clarice Lispector – São Paulo, 1977 (English subtitles) via Youtube

Benjamin Moser on translating Clarice Lispector via Youtube

The Complete Stories: Clarice Lispector via Youtube