Kintsugi heißt der Roman Miku Sophie Kühmels, der im August 2019 im S. Fischer Verlag erschienen ist. Mit ihrem ersten Roman ist Kühmel, die als Studentin bei Daniel Kehlmann und Roger Willemsen gelernt hat, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 gelandet. Der Begriff „Kintsugi“ beschreibt im Japanischen eine Technik, mit der gebrochenes Porzellan mit Gold repariert wird. Erst der vermeintliche Makel – der Knacks – verwandelt das Beschädigte in etwas Besonderes.
von Janina Zogass
Die Ausgangssituation sowie das Setting, in dem sich die vier Protagonisten bewegen, sind schnell beschrieben: Max und sein langjähriger Partner Reik wollen mit ihrer „Wahlfamilie“ ein gemütliches Wochenende in der Uckermark verbringen und auf diese Weise ihr Beziehungsjubiläum begehen. Dieser Inner Circle besteht aus ihren beiden engsten Freunden: Tonio, Reiks erstem Knutschfreund und dessen Tochter Pega. Doch auch die winterliche Idylle ihres Hauses am See kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Wochenende trotz Tee und Keksen alles andere als gemütlich wird. Zu viele ungelöste Konflikte, Ängste, Eifersucht, gekränkte Erwartungen – Unausgesprochenes – lodern unter der Oberfläche.
Die Erzählung beginnt mit Reiks und Max’ Ankunft an ihrem Refugium am See.
„Die Ruhe schmiegt sich kühl in ihre Ohren. Beide Männer stehen einen Moment nur da und atmen und sind gemeinsam allein. Dann klaubt Reik aus Max‘ Hand den Schlüssel, und sie tauchen in die vertraute Dunkelheit ihres Hauses.“
Es ist die Ruhe vor dem Sturm, denn für ein echtes Drama braucht man Zuschauer.
Über die vier Protagonisten erfahren wir Folgendes: Max ist ein ehrwürdig ergrauter Archäologieprofessor mit Putzfimmel, der sich gerne sprechen hört. Zum Beispiel, wenn er seinen Studenten die Illusion nehmen möchte, Archäologen stoßen bei ihren Grabungen auf wahre Schätze. Sein Partner Reik ist nach Jahren voller Existenzängsten und Selbstzweifel ein weltweit gefeierter Künstler. Die Ängste sind geblieben. Max lebt seit jeher in ständiger Sorge um Reik, weil er emotional instabil ist und zu selbstzerstörerischem Verhalten neigt. Mit den jungen Männern, die sie am Anfang ihrer Liebe waren, haben sie nicht mehr viel gemeinsam. Sie haben sich auseinandergelebt: Wenn der eine aufwacht, beeilt sich der andere einzuschlafen.
Tonio ist Pianist und Reiks erster Freund. Die beiden haben nach all den Jahren immer noch eine sehr enge Verbindung, die Max immer wieder einen Stich versetzt. Er akzeptiert sie jedoch, weil Reik und er Tonios Tochter Pega mit aufgezogen haben und er alle drei als seine Familie betrachtet – und die sucht man sich nicht aus.
Pega hat gerade ihr Studium begonnen und ist nicht mehr das kleine Mädchen im Kleid mit Zöpfchen, mit dem man Bilder malen kann. Ihr Erwachsenwerden zu akzeptieren, fällt den drei Männern so schwer wie wohl den meisten Eltern.
Der Roman besteht aus sechs Kapiteln, die, mit Ausnahme des ersten Kapitels, immer aus der Perspektive einer der vier Protagonist*innen geschrieben sind. Diese wechseln sich ab mit szenischen Dialogen zwischen den Figuren, die die*den Leser*in quasi zum stillen Teilhaber am Frühstückstisch machen.
Die Grundidee, das Wochenende am See und die Beziehungen der Personen untereinander aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, ist gut, die Umsetzung hätte jedoch inhaltlich und sprachlich besser und differenzierter ausfallen können. Beispielsweise ist der jeweilige Sprachduktus in den Kapiteln, in denen die Protagonist*innen ihre Wahrnehmung schildern, derart ähnlich, dass man nicht aus dem Sound, sondern durch ein logisches Ausschlussverfahren schließen muss, wer hier gerade sein Innerstes offenbart. Diese Monophonie, die sich auch auf der inhaltliche Ebene erstreckt, ist einer der Gründe, warum die Figuren im Roman nicht authentisch, sondern trotz der vermeintlich vielen Informationen, die man über sie erhält, wie blasse stereotype Pappaufsteller wirken, die weder Sympathie noch Aversion hervorrufen. Die szenischen Gespräche am Frühstückstisch wirken steif, obwohl sie Lockerheit rüberbringen sollten und lesen sich wie das Skript einer Daily Soap. Ihre Funktion innerhalb der Erzählung bleibt, vom Versuch, die Perspektive zu wechseln mal abgesehen, unklar.
Licht, Kamera, Action
„Reik kehrt grinsend an den Tisch zurück und erwidert Max‘ bohrenden Blick mit deinem Zwinkern.“
PEGA: Und am Ende ist eure Ehe geschieden und einer von uns tot?
MAX: Es ist nicht Südfrankreich, Liebes. Und kein Deray-Film.
PEGA: Schade eigentlich.
REIK: Wenn du ganz lieb bist, erdrossle ich dich vielleicht mit deinem Handyladekabel.
Miku Sophie geizt nicht mit Adjektiven. Ihr Schreibstil wirkt an vielen Stellen blumig und überladen. Die fast poetischen Naturbeschreibungen der belles lettres stehen in einem massiven Kontrast zu den zahl- und detailreichen Sexszenen zwischen Max und Reik, die bisweilen von plumper Direktheit zeugen. Dabei lassen sie der Fantasie nicht den geringsten Raum: Sie erinnern an die Audiodeskription eines Pornos. Vielleicht muss man sich entscheiden: Novalis oder 50 Shades of Gray?
Es ist schade, dass in einem Roman, dessen wichtigstes Thema menschliche Beziehungen ist, das Verhältnis der beiden Hauptfiguren so sehr auf deren Sexualpraktiken reduziert wird. Die Erzählung erinnert in mancherlei Hinsicht an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben, in der die Darstellung eines schwulen Paares, das ebenfalls einen selbstzerstörerischen und einen kümmernden Part hat, deutlich emotionaler und glaubwürdiger beschrieben wird.
Obwohl Kintsugi von vier Menschen handelt, die Gefühle durchleben, die jeder kennt und obwohl wir vermeintlich so viel über sie und ihre Gefühle erfahren, bieten sie nahezu keine Identifikationsfläche und deshalb keinen Anlass, mit ihnen um ihre Liebe zu bangen. Sie nähren sich – der Roman ebenfalls – aus Klischees, Allgemeinplätzen und etwas Popkultur. Über allem schwebt als wirkmächtigstes Bild das Haus am See. Keanu Reeves und Sandra Bullock schieben sich vor Max, Reik, Tonio und Pega und im Ohr läuft Peter Fox.
Der S. Fischer-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.