Sibylle Berg – GRM
Ein fucking Rundumschlag.
Rochdale, eine in jeder Hinsicht kaputte Provinzstadt Nordenglands in nicht allzu ferner Zukunft: Die vier heranwachsenden Protagonisten Don, Karen, Hannah und Peter wollen ihre Leben, die von massiver Gewalt, Ausgrenzung und dramatischen Schicksalsschlägen und Verwahrlosung geprägt sind, eine neue Wendung geben, oder wenigstens eine andere Stadt aufmischen.
von Janina Zogass

Es zieht sie in die Metropole London, Geburtsstadt des Musikstils Grime, mit dessen von Wut und Verzweiflung erzählenden Songtexten sie identifizieren können. Sie fliehen nicht allein vor ihren prekären und zutiefst desillusionierenden Lebensumständen, sondern versuchen vielmehr, aus dem System, das diese Umstände begünstigt, auszubrechen: ein System, das sozialer Ungerechtigkeit und dem Menschen im Allgemeinen vollkommen gleichgültig gegenübersteht, in dem nur die eigene Lethargie dem Freitod im Wege steht, ein rechtspopulistischer Überwachungsstaat, in dem die Menschen dafür bezahlt werden, dass sie sich einen Chip implantieren lassen, der ihre Existenz in Big Data verwandelt und so selbst zum Produkt werden. Nur das Internet funktioniert – dafür sorgen „die da oben“ schon –einwandfrei, damit die Menschen ihre Zeit damit verbringen, Pornos auf ihren „Endgeräten“ zu konsumieren und keine Fragen stellen. Jeder kann es schaffen? Bullshit. Auch das Großstadt-Setting hält für die Freunde nur Stagnation oder Abwärtsspiralen bereit. Der Soundtrack dieses Elends und der Wut, die eben keine Veränderung nach sich zieht, ist Grime, zu Deutsch: Dreck.
Grime war wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben.
„GRM-Brainfuck“ wird häufig als dystopischer Roman bezeichnet, der aber in vielerlei Hinsicht eher eine düstere Gegenwartsbeschreibung, eine zynische Bestandsaufnahme unserer jetzigen Welt ist. Sibylle Berg Stellen greift bereits vorhandene Realitäten wie digitale Überwachung, Rechtspopulismus und Privatisierung von Staatlichem auf und treibt sie in manchen Fällen auf die Spitze. Auch der Hochhausbrand und die beschriebenen sexuellen Gewaltverbrechen gegen Frauen sind keine Fiktionen der Gegenwart oder Zukunft, sondern reale Geschehnisse. Jedes Kapitel beginnt mit einem knappen Steckbrief, in dem die Figuren, um deren Lebenswirklichkeit es im Kapitel geht, bewusst auf wechselnde Faktoren wie Ethnie, sozialer Status, sexuelle Orientierung, Interessen, Intelligenz, Familienverhältnisse und ökonomischer Nutzen reduziert werden. Auf diese Weise wird die Überwachungsthematik aufgegriffen.
Ihr geilt euch an den kleinen Knochen auf, die so leicht brechen, und an dem Gefühl, endlich einmal Macht zu haben über jemanden, der Angst vor euch hat, und dann seht ihr die Kinder an, glasig, und hasst sie in ihrer Bedürftigkeit, die eurer so ähnlich ist.
Die Autorin bedient sich im Roman erfolgreich einiger erzählerischer Kniffe. Beispielsweise wählt sie Kinder als Protagonisten, die in ihrer Schutzlosigkeit und Bedürftigkeit auf die Empathie der Leser abzielen. Es gelingt ihr außerdem, einen Roman mit 640 Seiten und vielen Figuren durch eine im Film beliebte Methode als einheitliches Werk zusammenzuhalten: Die Kapitel sind nur formal vorhanden und blenden von einer Figur zur nächsten. Sätze, emotional-körperliche Zustände und inhaltliche Themen werden kapitelübergreifend fortgesetzt. So werden die verschiedenen Figuren und ihre Lebensumstände miteinander verknüpft und als gleichermaßen beschissen ausgewiesen. Ein wirklicher Plot oder komplexe Figurenentwicklung gibt es nicht. Die Figuren erfüllen lediglich den Zweck, die Folgen eines kranken Systems zu beleuchten.
Der Roman besitzt eine beeindruckende Sprachgewalt: Berg verwendet im Roman eine brutale und vulgäre Sprache. Die Missstände, denen ihre Figuren ausgesetzt sind, werden in teils grandiosen sprachlichen Bildern verdichtet. Sie erzählt von Kindheit als ein „Puppenhaus aus Schlamm“ und von „fleischgewordener Hilflosigkeit“ als Lebensgefühl. Das Problem mit dem Sound von „GRM-Brainfuck“ ist jedoch, dass er trotz der beeindruckenden Vielzahl an Figuren immer der gleiche bleibt. So kann man dem Roman zwar inhaltlich/thematische Vielfalt und in einem gewissen Maße Perspektivenreichtum zugestehen, aber auf keinen Fall Vielstimmigkeit im eigentlichen Wortsinn. Es ist die Stimme von Sibylle Berg, die in Gestalt einer über den Dingen stehenden Erzählinstanz zwar auf diverse Kalamitäten aufmerksam macht, dabei jedoch eigentlich einen zynischen Kommentar über „die Märkte“, „das System“, Männer und das zwangsläufige Aussterben der Menschheit – weil Menschen eben dumm sind – abgibt oder ihren Figuren in personaler Rede in den Mund legt. So kommt es, dass so manche Siebenjährige verblüffend selbstreflektiert ist. Sibylle Bergs trieft aus jeder Seite. Die Trennung von Autor und Werk funktioniert nicht richtig, weil Berg selbst eine Kunstfigur ist. Frau Berg ging für ihre Buchrecherche nach Rochdale und war nie wieder die Alte. Ungefähr so muss es sich zugetragen haben. Sie sagt „fucking“ und „dito“ (allein auf den ersten 66 Seiten fünfmal) und diese Signature Words tauchen in „GRM-Brainfuck“ so oft auf, weswegen man beim Lesen unweigerlich ihre Stimme hört, wenn man sie denn kennt. Eine derart starke Überschneidung von Autor- und Erzählton habe ich noch nie bewusst wahrgenommen. Das macht den Roman nicht automatisch zu etwas Schlechtem, erschwert es jedoch, bei aller Liebe, sich auf die Erzählung zu konzentrieren.
Wer Sibylle Bergs 2019 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten und mehr als 600 Seiten langen Roman in der Hoffnung auf seichte Unterhaltung oder konstruktive Weltverbesserungskonzepte lesen will, ist im Falle von „GRM – Brainfuck“ falsch beraten, hat aber auch keine Kenntnisse über Sibylle Bergs sonstiges künstlerisches Schaffen, das genau wie „GRM – Brainfuck“ von schonungsloser Radikalität und Destruktivität nach Berg ’scher In-your-face-Manier und scharf formulierten Beobachtungen im Großen und im Kleinen zeugt. „GRM – Brainfuck“ ist ein unbequemer Roman der aufgrund seiner filterlosen Aussagen und voyeuristischen Darstellungen von Körperlichkeit und Anderem schockiert, irritiert und der dafür sorgt, das einem das Lachen im privilegierten Halse steckenbleibt.
Lars Lenth – Der Lärm der Fische beim Fliegen. Übersetzt aus dem Norwegischen von Frank Zuber.
Im ersten Band Leo Vangen-Reihe widmet sich Lars Lenth einem Thema, das Spannung verspricht: die norwegische Lachszucht und ihre Schattenseiten. Der Plot des 2018 veröffentlichten Romans ist schnell umrissen. Durchschnittstyp Leo Vangen, ein bei Oslo lebender Rechtsrefrendar, wird unerwartet von einem Freund aus Kindertagen kontaktiert. Es handelt sich um den Unternehmer Axel Platou, der ihn bittet, sich schnellstmöglich in den hohen Norden des Landes zu begeben, um ihm dort einen Gefallen zu erweisen. Ökoaktivisten haben mehrere Anschläge auf Axels Lachsfarm verübt und Vangen soll nun die Verantwortlichen dafür finden. Die Aufklärung des Falls gestaltet sich allerdings brisanter als erwartet, weil die berüchtigten Vega Brüder, die die Lachsfarm betreuen, die Dinge auf ihre ganz eigene, nicht an Gesetzen interessierte Weise lösen.
von Janina Zogass
Deutsche Leser*innen – oder wenigstens deutsche Verlage – haben anscheinend eine Affinität zu absurd langen Buchtiteln. Deshalb trägt der Roman im Deutschen den hanebüchenen Namen Der Lärm der Fische beim Fliegen. In Norwegen ist er unter dem schlichten Titel Brødrene Vega (Die Vega Brüder) erschienen.
Leider ist der Roman ein gutes Beispiel dafür, dass nicht alle Geschichten aus Skandinavien aufregend sein müssen, auch wenn die Lachszuchtmafia-Thematik verheißungsvoll erscheint. Die Gründe für die beim Lesen aufkommende Langeweile sind vielfältig. Es beginnt damit, dass Leo Vangen, als Protagonist der Erzählung vollkommen farblos und uninteressant bleibt Die anderen Figuren des Romans sind zwar ebenfalls nicht besonders komplex angelegt und weisen im Laufe der Handlung keine wirkliche Entwicklung auf, werden von Vangen in puncto Zweidimensionalität trotzdem um Längen geschlagen. Das Problem ist dabei nicht, dass Leo Vangen als öde-unscheinbarer Loser- Charakter eingeführt wird, sondern dass seine Figur schwach konzipiert ist. Man überfährt einfach kaum etwas über ihn, weder indirekt noch direkt. Dies könnte zumindest teilweise der Tatsache geschuldet sein, dass in Deutschland mit „Der Lärm der Fische beim Fliegen“ der zweite Teil der Vega-Reihe vor dem ersten Teil „Schräge Vögel singen nicht“ erschienen ist.
Bis zu seinem vierundvierzigsten Geburtstag hatte er nur ein einziges Buch freiwillig aufgeschlagen, nämlich die Autobiographie des britischen Fußballers Vinnie Jones, genannt „Die Axt“.
Verhältnismäßig originell und sympathisch wirkt die Figur des kauzigen Einsiedlers „Rino Gulliksen“, der der sich im nordnorwegischen „Outback“ versteckt hält, weil er irgendeinen Mist gebaut hat. Dennoch wirken die meisten Figuren – auch Rino Gulliksen – wie nicht erstzunehmende, seltsame Trottel, Parodien ihrer selbst. Sie sehen komisch aus, verhalten sich komisch und singen lauthals alte Bee-Gee-Hits. Warum? Es geht doch eigentlich um ein ernstzunehmendes ökologisches Problem.
Einen Tag später sagte Platou, dass sie das Zeug zum Modell hätte, wenn ihre Hüften ein klein wenig schmaler wären.
Die zwei Frauenfiguren kommen in der Geschichte auffällig schlecht weg. Die Meeresbiologin Liv Kongevold und die Umweltaktivistin Erna Solbakken werden von den männlichen Figuren sexualisiert und beschimpft. Es bleibt unklar, welche Funktion diese Darstellungen haben könnten. Korrigiert oder kommentiert werden sie jedenfalls nicht, was bedeutet, dass frauenfeindliche narrative bedient werden.
Anfangs erscheinen die regelmäßig eingestreuten Informationsblöcke über die norwegische Lachszucht noch als willkommene Abwechslung zum lahmen Plot, mit voranschreitender Lektüre wird man jedoch das Gefühl nicht los, dass es hier nicht um die Vermittlung von handlungsrelevantem Know-how geht, sondern darum mit seinem Wissen zu prahlen.
Wie viele Neureiche in seiner Branche hatte Torvald nur einen Hauptschulabschluss, worauf er im Übrigen stolz war. Er versäumte keine Gelegenheit, sein Bildungsdefizit zu betonen.
Die wohl größte Stärke des Romans liegt in einem teils arg unterschwelliegen, aber durchaus vorhandenen Sprachwitz und im schwarzen Humor, der regelmäßig aufkeimt. Es ist jedoch leider nicht auszuschließen, dass beim Übersetzen ins Deutsche ein ganz entscheidender Teil des norwegischen Charmes und Humors verlorengegangen ist, der jetzt für eine ansteckende Lektüre fehlt. Unverständlich bleibt auch, was es sich mit dem im Roman omnipräsenten Bashing Neureicher auf sich hat. Vielleicht macht sich die Geschichte besser als Serie. Immerhin ist der Text sehr szenisch geschrieben und wirkt daher schon wie ein Drehbuch.
Die Texte sind im Rahmen des Begleitseminars zum Kolloquium Literarische Neuerscheinungen im Sommersemester 2020 entstanden.