Kapitale Ausbeutung 2.0: Das Schauspiel Wuppertal aktualisiert Hauptmanns „Die Weber“

Unternehmer Dreißiger (Alexander Peiler, mi.) und seine Angestellten (v.l. Thomas Braus, Martin Petschan, Yulia Yáñez Schmidt) im Verteilerzentrum. Foto: Uwe Schinkel

„Denker. Macher. Wuppertaler.“ – das Friedrich Engels gewidmete Motto des Jubiläumsjahres ENGELS 2020 würde sich wohl auch Wilhelm Dreißiger ohne zu zögern auf die Fahne schreiben, wenn es darum geht, sich selbst zu charakterisieren. Als Kopf von „XXX Dreißiger Logistics“ weiß er die Leitsätze seiner Unternehmensphilosophie unter die Leute zu bringen – sei es in Form von unübersehbaren Werbebannern („Work hard. Have fun. Make history.“) an der Fassade des Opernhauses oder pseudo-authentischen Imagefilmen, in denen sich seine betont heiteren Angestellten über ihre Arbeit bei Dreißiger Logistics äußern und Bürger*innen den dadurch entstandenen Mehrwert für die Stadt bekräftigen. Aus Hauptmanns Fabrikant ist ein visionärer Jungunternehmer geworden, statt ins Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts führt Martin Kindervaters Inszenierung die Weber ins digitale Zeitalter der Gegenwart. Dorthin, wo Logistikbranche und Online-Handel nicht erst in diesen Tagen die Gewinner sind und soziale Ungleichheit an der Tagesordnung ist.

von Larissa Plath

Wuppertal wird in mehrfacher Hinsicht zum Schauplatz des Geschehens. Keinen geringeren Ort als das traditionsreiche Opernhaus hat der Unternehmer Dreißiger (Alexander Peiler) für die Errichtung seiner Konzernzentrale und des Verteilzentrums gewählt. Wie es hinter der Fassade von propagierten Werten wie Menschlichkeit, Teamgeist und respektvollem Umgang wirklich zugeht, verrät der Blick ins Lager: Zwischen Regalen, Transportwagen, Gabelstaplern und sich türmenden Paketen mühen sich die Angestellten, werden vom Expedienten Pfeifer (Stefan Walz) angetrieben, der dank der Überwachungskameras alles im Blick hat. Diese sind ebenso wie Mundschutz, Handschuhe und leuchtend gelbe Warnwesten ein Bestandteil des firmeneigenen Sicherheitskonzeptes – der Slogan „XXX. Mit System. Relevant.“ prangt auf einem der Banner neben der Bühne. 200 neue Jobs, „nur aus Barmherzigkeit“, plant Dreißiger, während seine jetzigen Angestellten am Rande der Existenz leben. So auch der alte Baumert (Thomas Braus). Ein eingespieltes Video zeigt ihn, wie er als Paketbote durch Wuppertal hetzt, ohne Pause eine Lieferung nach der anderen zustellt. Unterlegt ist der Einspieler mit einem John Lennon-Song: Die Entwicklung des Kapitalismus führt vom Fabrikarbeiter über den „Working Class Hero“ zum modernen Niedriglohnbeschäftigten.

Ausbeutung damals und heute

Bei Kindervater kommt Dreißiger als eine Art Start-up-Unternehmer mit Hipster-Einschlag daher, Vollbart und ‚Half Bun‘ inklusive, das Smartphone immer griffbereit. Äußerliche Parallelen zum berühmten Sohn der Stadt finden ihren ironischen Ausdruck in einer Dreißiger-Statue, die der im Engelsgarten frappierend ähnlich sieht. Was Dreißiger in seinem Auftreten zur typenhaften Figur macht, gleicht der aus der Vorlage übernommene und durch Marketing-Sprech ergänzte Text aus. Wiederholt werden Leitsätze seiner Unternehmensphilosophie auf der Leinwand eingeblendet, seine Ansprachen an die Mitarbeiter*innen sind von phrasenhaften Äußerungen durchzogen. Bei all dem zeigt sich Dreißiger in der Öffentlichkeit als eloquent, glatt und kaum greifbar. Erst im privaten Raum seiner Villa wird er als Figur plastischer, äußert sich nicht mehr nur in standardisierten Leerformeln, sondern verbittet sich klar und deutlich jedwede humanistische Ansätze des Hauslehrers Weinhold (Kevin Wilke).

Zu diesem Zeitpunkt haben die Unruhen unter den XXX-Angestellten längst begonnen, vor der Villa des Unternehmers kommt es zu hörbaren Tumulten. Der vierte Akt, in dem sich die wohlhabende Abendgesellschaft bei Dreißiger zusammenfindet, wird vom Geschehen auf der Bühne ins Kronleuchterfoyer des Opernhauses ausgelagert und zeitgleich auf die Bühnen-Leinwand übertragen. Eine hektische Kameraführung fängt die Gesichter der Anwesenden in Großaufnahme ein, von Minute zu Minute wirken sie gehetzter. Wenig später positionieren sich die Aufständischen mit Sturmhauben auf dem Kopf vor dem Anwesen. Dreißigers beschwörende Ansprache verfehlt ihre Wirkung, seine Statue wird gestürzt.

Aktualisierung mit Reibungspunkten

Hauptmanns soziales Drama von 1892, ein Stück, das den ein halbes Jahrhundert zuvor stattgefundenen Aufstand der schlesischen Weber behandelt, in die Gegenwart zu transportieren, ist ein ambitioniertes Unterfangen. In der aufwändigen Wuppertaler Inszenierung geschieht dies auf vielen Ebenen: Schauspiel auf und abseits der Bühne, Videosequenzen, in denen verschiedene Orte in Wuppertal bespielt werden, eine Dreißiger-Werbekampagne mit Slogans, Bannern und Flyern, die das Opernhaus zur Konzernzentrale macht. Auch Corona wird ins Spiel integriert, das Tragen von Alltagsmasken bei der Arbeit und das Husten der kranken und ausgezehrten Menschen fügt sich in das dargestellte Setting ein.

Die Analogie – einschließlich der Beibehaltung von Hauptmanns Text – funktioniert auf weiten Strecken, geht aber nicht komplett auf (will es auch nicht?). Bei Hauptmanns Webern ging es ums Überleben, ihre Armut war eine andere Form der Armut und mit einem Leben am Existenzminimum in heutiger Zeit nicht zu vergleichen. Darüber hinaus schaffen die anachronistisch anmutenden Szenen der Arbeitenden/Weber und ihr derbes, nicht immer verständliches Kunst-Schlesisch den Bezug zur Vergangenheit und wirken dort entgegen, wo die Darstellung des an Amazon angelehnten Online-Versandhandels leicht ins Plakative abdriften könnte. Verortet im Hier und Jetzt in Wuppertal und in Zeiten von Digitalisierung und Online-Riesen (und Corona) hat sich der sozialgeschichtliche Kontext geändert, die soziale Frage wie sie schon Engels und Hauptmann im 19. Jahrhundert gestellt haben, bleibt unbeantwortet. „XXX. Bewerben Sie sich jetzt!“ lautet das zynische Schlusswort.

Gemeinsam mit Schauspielerinnen des inklusiven Schauspielstudios stemmt das Wuppertaler Ensemble die zahlreichen Rollen in Mehrfachbesetzung, stellenweise unterstützt von einem Streichquartett des Sinfonieorchesters. Man mag sich vorstellen, welche zusätzliche Wucht Kindervaters vielseitige Inszenierung in der Prä-Corona-Version – mit deutlich mehr Akteuren und Spielorten – hätte entfalten können. Es sei denn, man heißt Wilhelm Dreißiger und macht drei Kreuze, dass diese Entwicklung an einem vorüber gegangen ist.


Die Weber
„De Waber“
von Gerhart Hauptmann

Termine im Opernhaus:

So. 11. Oktober 2020 18:00 Uhr
So. 18. Oktober 2020 18:00 Uhr
Fr. 06. November 2020 19:30 Uhr
Sa. 19. Dezember 2020 19:30 Uhr
So. 07. Februar 2021 16:00 Uhr
Sa. 20. Februar 2021 19:30 Uhr

Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!

Inszenierung: Martin Kindervater
Bühne & Kostüme: Anne Manss
Video: Jan Krämer
Dramaturgie: Barbara Noth
Regieassistenz: Alexander Sturm / Jonas Willardt
Kostümassistenz: Luisa Weinberg
Inspizienz: Stefanie Smailes
Regie- und Dramaturgiehospitanz: Charlotte Pfingsten

Besetzung:

Alexander Peiler: Dreißiger, Parchentfabrikant / Gottlieb Hilse
Yulia Yáñez Schmidt: Frau Dreißiger / Frau Heinrich / Zweiter Weber (Reimann)
Stefan Walz: Pfeifer, Expedient bei Dreißiger / Schmidt, Chirurgus
Martin Petschan: Neumann, Kassierer bei Dreißiger / Pastor Kittelhaus / Frau Hilse
Julia Meier: ROSA, Personal Assistant bei Dreißiger / der alte Wittig, Schmiedemeister / Luise, Gottliebs Frau
Kevin Wilke: Weinhold, Hauslehrer bei Dreißigers Söhnen / Bäcker / Mutter Baumert
Nora Krohm: Frau Pastor Kittelhaus / Emma Baumert / Erster Weber / Erste Weberfrau
Thomas Braus: Heide, Polizeiverwalter / der alte Baumert
Luise Kinner: Moritz Jäger / Heiber
Hans Richter: der alte Hilse

Statisterie: Murat Cakir, Hans-Peter Koellges, Heidi Stein, Janneth Wegener

Musiker*innen des Sinfonieorchesters Wuppertal