„Was ist ein spannendes Thema, Sokrates?“ Die Antwort des griechischen Philosophen folgt umgehend: „Die Liebe!“ Da können Platon, Aristophanes und die anderen anwesenden Denker nur zustimmen. Und wie sollte man sich diesem spannenden Thema besser nähern, als mit Shakespeares Drama Romeo und Julia, dem Inbegriff der alle Hindernisse überwindenden Liebe? Dem einleitenden Szenario in Anlehnung an Platons Symposion folgt eine assoziativ komponierte Inszenierung unter der Regie von Nicolas Charaux, der den zuweilen überstrapazierten Tragödien-Klassiker als zeitgemäßes Bildtheater präsentiert.
von Larissa Plath
Zurück zum Anfang, der ohne den Unheil verkündenden Prolog über die„star crossed lovers“ auskommt (und vielleicht schon ein alternatives Ende impliziert?). Bei geschlossenem Vorhang bildet Ouvertürenmusik den Auftakt für ein Figurenspiel hinter einer Gaze-Wand. Sieben Gestalten, gekleidet im Stil der 1940er-Jahre, bewegen sich dort im Nebel hin und her, unverständliches Gemurmel und Kichern ist zu hören. Dann und wann bleiben sie stehen, finden sich in Paaren oder kleinen Gruppen zusammen, verharren in kurzen Standbildern, die wie Schwarzweißfotografien anmuten. Szenenwechsel. In Anspielung auf Platons „Gastmahl“ folgt das eingangs erwähnte Gespräch der Philosophen, bevor zum Pantomimentanz bei italienischer Musik übergegangen wird. Im Hintergrund laufen Videos, die Proteste der Gelbwestenbewegung zeigen, schließlich erscheinen die Sätze „Ihr wisst nicht, was ihr tut“ und „Ich will Frieden…“.
Liebe und Hass, Gewalt und Frieden und dazwischen Romeo und Julia. Die sich noch nicht kennen und deren hinter weißen Gips-Masken verborgene und zu Pierrot-Visagen erstarrten Gesichter ein Erkennen zunächst unmöglich machen. In Großaufnahme werden die Köpfe von Romeo und Benvolio auf die Gaze-Leinwand projiziert, überragen die anderen schemenhaften Figuren im Hintergrund. „Ich bin schwer wie Blei“, sagt ein melancholischer Romeo (Konstantin Rickert), der seine Schwere erst ablegt, als er Julia (Julia Meier) begegnet. Das Kennenlernen auf dem Fest der Capulets ist ein Tanz auf Abstand, bei dem die Bühne im Dunkeln liegt und lediglich zwei Lichtkegel auf die beiden gerichtet sind. Julias Erkenntnis – „zu früh gesehen und zu spät erkannt“ – erhält symbolträchtigen Charakter: Von dem Punkt an, da sie sich gefunden haben, legen Romeo und Julia und mit ihnen auch die anderen Figuren ihre Masken ab.
Wie sich das Geschehen mit der griechischen Philosophie der Antike verbinden lässt, klärt sich spätestens mit einem Exkurs über Platons Symposion. Einer der Teilnehmer an diesem fiktiven Gastmahl ist der Komödiendichter Aristophanes. Seinem Mythos der Kugelmenschen zufolge hatten die Menschen ursprünglich eine andere als die uns bekannte Gestalt: kugelförmige Rümpfe, mit jeweils vier Händen und Füßen und zwei Gesichtern, zudem gab es drei Geschlechter (rein männlich, rein weiblich oder je aus einer männlichen und einer weiblichen Hälfte bestehend). Um der drohenden menschlichen Hybris Einhalt zu gebieten, teilte Zeus die Kugelmenschen entzwei. Von da an, so der Mythos, sucht der unvollständige Mensch „beständig seine andere Hälfte“, eine Suche, die sich im erotischen Begehren äußert und immer nach dem Ganzen, nach der Liebe strebt.

Bei Charaux wird Romeos und Julias Streben nach Vereinigung, das Überwinden der Trennung zum zentralen Moment. Ihre erste Begegnung, die Balkonszene, die Hochzeitsnacht, die entscheidenden Szenen, in denen die Leidenschaft der beiden Liebenden zum Ausdruck kommt, werden dargestellt – und all das funktioniert hier auf Distanz. Gedankliche statt körperlicher Nähe, Worte, Blicke und Gesten statt Berührungen. Unterstützt von einer ausdrucksstarken Musikauswahl, die von Wagners Lohengrin-Ouvertüre über Tschaikowskis Romeo und Julia Fantasie bis zum Mashup-Hit In My Mind reicht.
Die notgedrungen veränderte Spielweise wird nicht überspielt, sondern offen zur Schau getragen, birgt mitunter auch Potential für komische Szenen. Bruder Lorenzo trägt bei passender Gelegenheit die Hygieneverordnungen des Schauspiels vor. In einer Mischung aus Pantomime und Flugbegleiter-Sicherheitseinführung, mit vollem Körpereinsatz und in Slapstick-Manier präsentiert Luise Kinner diesen Solopart und erntet dafür Szenenapplaus. Wenig später: Einzelne Stühlen werden auf der Bühne verteilt, das gesamte Personal nimmt Platz und trägt den Konflikt zwischen Montagues und Capulets in dieser Position aus. Worte genügen, im Hintergrund das leise Klingen von Schwertern.
Der unabwendbaren Gewalt wird die Liebe entgegengesetzt und so endet der Abend mit einem imposanten Schluss. Wer sagt, dass Romeo und Julia ihrer Liebe erst im Tod ultimativen Ausdruck verleihen? Was sich einmal gefunden hat, lässt sich nicht mehr trennen. „Ihr könnt nicht einfach die Szene sprengen“, empört sich Paris, als Romeo und Julia sich erst zaghaft nähern und schließlich auch körperlich zueinander finden. In ihrer Umarmung werden sie zum Symbol für die Vereinigung der beiden Hälften, während die anderen, in helle Schutzanzüge gekleideten Figuren sie mit Schaum besprühen. Wird das eng umschlungene Paar einer Skulptur gleich konserviert oder ob ihrer unerlaubten Nähe desinfiziert? Ist ihre Liebe ein Denkmal für die Ewigkeit oder eine fragile Momentaufnahme?
Nicolas Charaux’ Inszenierung wartet mit vielen überraschenden Momenten auf. Was schon den antiken Philosophen Rätsel aufgab, bei Shakespeare verhandelt und in unzähligen Varianten adaptiert wurde, lässt sich auch heute noch in unvorhergesehener Weise auf die Bühne bringen.
Romeo und Julia
„Romeo and Juliet“
von William Shakespeare
Deutsch von Gesine Danckwart
Termine im Opernhaus:
Fr. 25. September 2020 19:30 Uhr
Do. 08. Oktober 2020 19.30 Uhr
Fr. 09. Oktober 2020 19:30 Uhr
So. 01. November 2020 18.00 Uhr
So. 14. Februar 2021 18.00 Uhr
So. 04. April 2021 18:00 Uhr
Fr. 04. Juni 2021 19:30 Uhr
Sa. 12. Juni 2021 19:30 Uhr
Sa. 03. Juli 2021 19:30 Uhr
Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!
Inszenierung: Nicolas Charaux
Bühne & Kostüme: Dominik Freynschlag
Dramaturgie: Barbara Noth
Dramaturgische Beratung: Jérôme Junod
Regieassistenz: Barbara Büchmann, Alexander Sturm
Ausstattungsassistenz: Aliki Anagnostakis
Inspizienz: Stefanie Smailes
Besetzung:
Stefan Walz: Capulet
Julia Meier: Julia, Tochter Capulets
Konstantin Rickert: Romeo
Alexander Peiler: Mercutio
Luise Kinner: Lorenzo
Martin Petschan: Tybalt
Kevin Wilke: Paris