Unter der Oberfläche: Kleists „Die Marquise von O….“ feiert Premiere am Schauspiel Wuppertal

Immer in Bewegung: Das Ensemble der „Marquise von O....“ in der Wuppertaler Inszenierung (v.l. Silvia Munzón López, Konstantin Rickert, Madeline Martzelos). Foto: Uwe Schinkel

Gottfried Benn bezeichnete ihn als „den gewaltigsten Gedankenstrich der deutschen Literaturgeschichte“: An entscheidender Stelle gesetzt, wird das simple Satzzeichen in Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O…. zur bedeutungsschwangeren Leerstelle. Deren Tragweite offenbart sich erst später, so auch auf der Bühne im Theater am Engelsgarten, wo die eigentliche Bedeutung der Auslassung im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln liegt. Just im kritischen Moment gehen die Lichter aus, Warteschleifenmusik dudelt im Hintergrund, all das geschieht en passant, bis die Erzählung wieder aufgenommen wird – und das Publikum im Laufe dieses ersten Premierenabends der neuen Spielzeit erfährt, was sich zugetragen hat.

von Larissa Plath

Die Geschichte der Marquise von O…. beginnt mit einer unerklärlichen Schwangerschaft. Per Zeitungsannonce lässt die verwitwete Marquise verkünden, „dass sie, ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und dass sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“ Wie konnte es zu dieser unerhörten Begebenheit kommen? Bei einem Überfall russischer Truppen wird die ohnmächtige Marquise von ihrem vermeintlichen Retter, dem Grafen F…, vergewaltigt. Sie wird schwanger und von der Familie verstoßen, kehrt aber nach Hause zurück, nachdem sie die Eltern von ihrer Unschuld überzeugen konnte. Graf F… gibt sich als Schuldiger und Vater des Kindes zu erkennen, am Ende heiratet er die Marquise. Was sich hier so knapp zusammenfassen lässt, entfaltet sich in Kleists Novelle, ähnlich der Struktur des klassischen analytischen Dramas, erst nach und nach.

Regisseurin Kristin Trosits folgt in ihrer Inszenierung am Schauspiel Wuppertal der Vorlage und verteilt den komplexen Text auf ein dreiköpfiges Ensemble. Erzählende, rückblickend zusammenfassende Passagen wechseln sich ab mit szenischen Darstellungen und kurzen Dialogsequenzen. Mal spricht eine der Figuren allein, mal alle drei gemeinsam in einer Art Chor, dann wieder wird ein Zwiegespräch zweier Figuren von ein und derselben Schauspielerin dargestellt. Auf eine eindeutige Zuordnung der einzelnen Charaktere wird verzichtet. Silvia Munzón López, Madeline Martzelos und Konstantin Rickert wechseln unaufhörlich die Rollen, heben so die Grenzen zwischen der Marquise, ihrer Familie und dem Grafen F… auf, sind ständig in Bewegung. Die starken choreografischen Elemente unterstützen die als Erzählung wiedergegebene Handlung, entwickeln aber ihr ganz eigenes Ausdrucksvermögen, das über das Gesagte hinausgeht. Ob spielerisch oder tastend, in krampfartigen Bewegungen oder langsam tanzend, drücken López, Martzelos und Rickert aus, was auf den ersten Blick nicht sichtbar ist.

„Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“

Heinrich von Kleist in einem Brief an Wilhelmine von Zenge, 1801

Bei Kleist verbirgt sich das Sein hinter dem Schein einer vordergründig sachlichen, fast unbeteiligt wirkenden Erzählweise, die in der Wuppertaler Inszenierung ihr Gegenstück in einem abstrakt-neutralen Bühnenbild findet: eine quadratische weiße Fläche, im hinteren Teil von weißen, teils spiegelnden Blöcken, an den Seiten von milchigen Plastikvorhängen begrenzt und von kühlen Leuchtröhren eingefasst. Die glatte Oberfläche ist nicht von Dauer, denn wie die schlichten weißen Kostüme des Ensembles wird auch die Kulisse im Laufe des Abends verunziert, wenn sich eimerweise bunte Farbe über sie ergießt. Lichtwechsel, plötzlich einsetzende, laute Technomusik und Referenzen auf klischeebeladene Fernsehwelten unterbrechen die Handlung, unvermittelte Wechsel der Spielebenen schaffen Distanz zum Dargestellten: So lässt der Heiratsantrag des Grafen Töne einer Daily-Soap anklingen während die Marquise von einem Moderator dazu aufgefordert wird, sich unter drei möglichen Kandidaten für ihr „Herzblatt“ zu entscheiden. Diese Brüche lassen die glatte Oberfläche bröckeln, nehmen etwas von der Schwere des Textes, betonen zugleich die Dimension der menschlichen Abgründe.

Als Die Marquise von O…. Anfang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, sorgte Heinrich von Kleist mit seiner Novelle für Aufregung. Nicht nur führt er die adlige Gesellschaft in ihrer Doppelmoral vor, sondern stellt eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Frauenfigur in den Mittelpunkt, die selbst aktiv wird, um den Vater des Kindes ausfindig zu machen und die Familienehre wieder herzustellen. Knapp zweihundert Jahre später hat sich zwar der gesellschaftliche Kontext geändert, aber Machtmissbrauch, Vergewaltigung und Krieg bestimmen den Alltag unzähliger Frauen. Überzeugend aktualisiert Regisseurin Kristin Trosits den thematisch zeitlosen Stoff, fügt den verschachtelten Text in eine moderne Form und schafft ein ausdrucksstarkes Gesamtbild, das sich nie ganz fassen lässt, das irritiert und Widersprüche aufzeigt. Auf konkrete Referenzpunkte, die der Handlung einen Stempel der Relevanz aufdrücken sollen, wird dankenswerterweise verzichtet.

Eines der stärksten Bilder an diesem Abend liefert das Ende: Die Bühne ist in sepiafarbenes Licht getaucht, die Marquise und der Graf nähern sich, umkreisen einander. Der lange Holzstab, den beide halten, ist mehrdeutiges Symbol für männliche Dominanz. „Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.“ In diesem paradox anmutenden Schlusssatz offenbart sich einmal mehr der widersprüchliche Charakter von Heinrich von Kleists Novelle. Die Möglichkeit zur Erkenntnis bleibt verwehrt, die Wuppertaler Inszenierung lässt das Ende bewusst offen.


Die Marquise von O….
von Heinrich von Kleist

Termine im Theater am Engelsgarten:

So. 20. September 2020 18:00 Uhr
Do. 01. Oktober 2020 19.30 Uhr
So. 08. November 2020 16:00 Uhr
Sa. 21. November 2020 19.30 Uhr
Fr. 18. Dezember 2020 19.30 Uhr
So. 27. Dezember 2020 18:00 Uhr
So. 24. Januar 2021 18:00 Uhr

Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!

Inszenierung: Kristin Trosits
Bühne & Kostüme: Nina Sievers
Choreografie: Jeremy Curnier
Dramaturgie: Peter Wallgram
Regieassistenz: Johanna Landsberg
Inspizienz: Stefanie Smailes
Produktionsleitung: Peter Wallgram

Besetzung: Silvia Munzón López, Madeline Martzelos, Konstantin Rickert