Über 50% aller verkauften Buchtitel in Deutschland gehören zu der Kategorie ‘Sachbuch’ – auf die Belletristik entfallen lediglich knappe 30%. Grund dafür mag die thematische Vielfalt sein, die verspricht, in verschiedenerlei Hinsicht mit Rat, Tat und laiengerecht aufbereitetem Fachwissen zur Seite zu stehen. Ob Ratgeber zur eigenen Zeitoptimierung, die Wahrheit über Verschwörungstheorien oder die Vereinbarkeit von persönlichen Lebenszielen und beruflichen Ambitionen: Für jede Frage scheint das passende Sachbuch bereits zu existieren. Wir haben uns angeschaut, welche Themen die aktuelle Sachbuch-Szene bewegen und stellen euch heute fünf Titel vor, die ein neues Licht auf mehr oder minder alltägliche Phänomene werfen und spektakuläre Denkanstöße aufgreifen.
Ben empfiehlt:
Rutger Bregman – Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit
„Homo homini lupus est.“ – „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Der bekannte Ausspruch von Thomas Hobbes ist nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand der Biologie in dieser Form nicht mehr korrekt. Wölfe sind keine bestialischen Einzelgänger, sondern höchst soziale Rudeltiere, die zu gegenseitiger Empathie fähig sind. Die Frage, ob der Mensch grundsätzlich einen guten oder einen schlechten Charakter aufweist, ist jedoch wesentlich verzwickter und seit Hobbes’ Staatstheorie unzählige Male aufgegriffen worden.
Rutger Bregman legt mit Im Grunde gut eine neue Sichtweise auf das menschliche Wesen vor, die einen vorsichtigen Optimismus erlaubt. Als Grundlage für seine historische Untersuchung dient die sogenannte ‚Fassadentheorie‘, die besagt, dass Moral, Rücksicht sowie Selbstbeherrschung in Krisenzeiten verloren gehen und der Mensch nur noch auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Auf insgesamt 1189 Seiten präsentiert der niederländische Historiker Belege, die der Fassadentheorie widersprechen. Besonders spannend: Er zieht nicht bloß hypothetische Gedankenexperimente zu Rate, sondern rekurriert immer wieder auf realgeschichtliche Krisen, die – auf den ersten Blick kontraintuitiv – das Gute im Menschen erkennen lassen.
Lara empfiehlt:
Sascha Michel – Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht
In dem 94 Seiten starken Bändchen, das dieses Jahr in der Reclam Reihe „Was bedeutet das alles?“ erschienen ist, argumentiert Sascha Michel der These entgegen, dass das Lesen in der heutigen, stressigen Zeit lediglich der Entschleunigung diene. Denn: Als Lesende*r nimmt man aktiv an der „Unruhe der Welt“ teil, man hört „das Herz der Kultur schlagen“. Manche Lektüre lässt ihre Leser*innen gar ratlos zurück, stellt das vorhandene Weltbild auf den Kopf und fordert ein, den Blick auf ‚Tatsachen‘ erst einmal neu zu sortieren.
Die Unruhe der Bücher lädt dazu ein, das eigene Leseverhalten und Buchvermarktungsstrategien im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und Ereignisse kritisch zu hinterfragen und sich selbst als Leser*in in den Mehrdeutigkeiten der Jetztzeit zu verorten. Der klare Schreibstil und das knappe Format machen Michels Essay zu einer verhältnismäßig schnellen Lektüre, die jedoch nicht sofort in Vergessenheit gerät, sondern lange nachhallt.
Larissa empfiehlt:
Jakob Hayner – Warum Theater. Krise und Erneuerung
Warum Theater – nicht als Frage, sondern als Aussage ist der Titel von Jakob Hayners kritischem Essay zu verstehen. Dass sich das Theater nicht nur in Zeiten von Corona-Einschränkungen in einer Krise befindet, setzt der Journalist als gegeben voraus. Bei der vermeintlich allgegenwärtigen Debatte, die sich zwischen den Marktzwängen des Theaters, seiner Politisierung und Ansätzen zu seiner Digitalisierung abspielt, bleibe das eigentlich zentrale „Warum“ aber paradoxerweise auf der Strecke. Eben hier setzt Hayner mit seinen Ausführungen an: Weshalb die Gegenwart und eine mögliche (notwendige?) Zukunft dieser Kunstform neu gedacht werden sollten, legt er in einem knapp 160 Seiten umfassenden, sehr dichten Essay dar, in dem er sich auf Kunst- und Kulturtheorien von Kant über Hegel bis Adorno bezieht. Hayner plädiert für eine „Erneuerung der Idee des Theaters“, die sich ausgehend von einer kritischen Selbstbefragung auf die Eigenschaften und Möglichkeiten der theatereigenen Darstellungsformen besinnt und diese neu auslotet.
„Die unernsten Spiele des Theaters entzaubern die ernsten der Wirklichkeit“, heißt es gleich zu Anfang. Mit seinem Aufruf, Theater neu zu denken, hätte Hayner möglicherweise keinen besseren Zeitpunkt treffen können. Nicht nur bis zum Beginn der neuen Spielsaison, sondern auch darüber hinaus liefert sein Essay genügend Stoff zum Nachdenken.
Ben empfiehlt:
Armin Nassehi – Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
Ab wann spricht man eigentlich vom ‚Digitalen Zeitalter‘? Begann es 1984 mit dem Versenden der ersten E-Mail oder doch erst im Jahr 2002, in dem erstmals mehr Informationen digital statt analog gespeichert werden konnten? Armin Nassehi, der wohl zu den prominentesten deutschen Soziologen der Gegenwart zählt, geht dieser Frage in seinem 2019 veröffentlichten Buch Muster nach und vertritt eine steile These: Digital sind wir schon lange. Genau genommen lässt sich digitales Verhalten bereits seit dem 18. Jahrhundert nachweisen.
Die Ursache dafür liegt in der Gesellschaft selbst begründet. Denn mit ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung bedarf es eines Mechanismus zur Komplexitätsreduktion. Statistiken, Verhaltensvorhersagen und nachprüfbare Register schützen also vor dem totalen Strukturverlust. Sich gegen die Digitalisierung sträuben zu wollen, kommt streng genommen unsozialem Handeln gleich. Gleichwohl Nassehi durchaus Schattenseiten der zunehmenden Technisierung skizziert, bildet seine Perspektive einen erfrischenden Gegenpol zu jenen lauten Stimmen, die dem Analogen nachtrauern und alles Neue als Verrohung der Gesellschaft abtun.
Lara empfiehlt:
Ingo Reuter – Weltuntergänge. Vom Sinn der Endzeit-Erzählungen
In Weltuntergänge nimmt der Professor für Religionspädagogik Ingo Reuter sich zahlreiche Weltuntergangsszenarien – von biblischen Erzählungen über Filme wie Independence Day bis hin zu The Walking Dead – zur Brust und untersucht die Narrative auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dabei identifiziert er unterschiedliche Gründe für den (möglichen) Untergang des menschlichen Lebens, wie wir es kennen, und betrachtet diese vor den jeweiligen historischen Hintergründen. Seien es moderne Erzählungen über Atomkriege und die Verselbstständigung Künstlicher Intelligenzen oder Deutungen weit älterer Schriftstücke, die das Ende voraussagen: Immer stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen innerhalb eines größeren, gesellschaftlichen Systems. In seinen Ausführungen kommt Reuter auf den Sinn und die Notwendigkeit von Weltuntergangsszenarien und die Hoffnung auf Rettung zu sprechen, die in unserer heutigen Lebenswirklichkeit präsenter denn je zu sein scheinen.