Ein Traumspiel: Zu Besuch beim Jugendclub „Junges Theater Wuppertal“

„Viktoria!“. Leicht gedämpft klingt der Schrei des jungen Mannes, mit jeder Wiederholung drängender, verzweifelter. Unruhig tigert er umher, von rechts nach links, vor und zurück. Weit kommt er nicht, seine Bewegungen enden an meterhohen, quaderförmig angeordneten Plexiglaswänden, die ihn umgeben. Sein paillettenbesticktes Hemd funkelt in der Sonne, der goldene Faltenrock schwingt bei jeder seiner Bewegungen mit. Er hält inne, hämmert von innen gegen die Scheibe: „Viktoria!“.

von Larissa Plath

„Danke, das war’s. Sehr gut!“, ertönt es kurz darauf von der Seite, wo Regie- und Kamerateam ihr improvisiertes Lager aufgeschlagen haben. Kabel schlängeln sich über den kurzgemähten Rasen, mit jedem lauen Windstoß rascheln nicht nur die Blätter der umstehenden Birken, sondern auch Seiten des Skripts, die hier und da verteilt liegen. Momente der Ruhe und Konzentration, ein Blick und ein kurzes Absprechen zwischen den Projektleitern Barbara Büchmann und Alexander Peiler, dann ist die Szene buchstäblich im Kasten. Unmittelbar überträgt die Kamera auf einen Bildschirm, was sich im Inneren des durchsichtigen Quaders abspielt, der mitten auf dem Gelände platziert ist.

Kubus_neu

Für Luna, Victoria, Moritz, Luca und die anderen Ensemblemitglieder vom Jugendclub „Junges Theater Wuppertal“ ist es Neuland. Dort, wo sonst Golfbälle geschlagen werden, laufen an diesem strahlenden Frühsommertag Ende Mai die Dreharbeiten für ihr aktuelles Projekt. Kamera statt Bühne – Improvisation in Zeiten von Corona. Praktisch von einem Tag auf den anderen wird der Golfplatz in Sprockhövel bei Wuppertal als Drehort organisiert und die Kulisse an Ort und Stelle geschafft. Ein Teil der Plexiglaskonstruktion stammt aus der Produktion des letzten Jahres, als die an das Schauspiel Wuppertal angegliederte junge Theatergruppe Andreas Steinhöfels Die Mitte der Welt auf die Bühne brachte. Wie eigens dafür gemacht, fügen sich die schwarzgerahmten Transparentwände in abgewandelter Form auch in das Konzept für die Dreharbeiten zu August Strindbergs Ein Traumspiel ein.

Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht; auf einem unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster: eine Mischung von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Einfällen, Ungereimtheiten und Improvisationen.
aus: August Strindberg, Ein Traumspiel (1902)

Nur auf den ersten Blick mag die Kulisse wie ein Fremdkörper in der Landschaft wirken. So lange, bis die einzelnen Ensemblemitglieder das Innere des Quaders zu ihrem individuellen Spielraum machen – mal hoffnungsvoll und voller Energie, ein anderes Mal abwesend, entrückt, dann wieder tanzend. Jede der dargestellten Figuren ist isoliert, kurzzeitig in einer eigenen Welt, hat dabei alles im Blick und ist zugleich für die anderen sichtbar. Die Mittagssonne strahlt, über den hellblauen Himmel ziehen Schleierwölkchen, der Glaskasten reflektiert das Grün der Umgebung. Ein unwirklich erscheinendes Szenario, passend zu Strindbergs symbolträchtigem Stück, das in einer Abfolge von traumhaften Sequenzen Bilder von Gefangenschaft, Nähe und Freiheit heraufbeschwört. Wären da nicht die vorbeirauschenden Autos und ein Caddy, der unerwartet am Ende des Platzes auftaucht und im Hintergrund durchs Bild fährt – man könnte leicht vergessen, dass sich die Szenen auf einem Golfplatz abspielen.

Victoria und Luna, beide in eng anliegenden, hellen Kleidern und mit leuchtend orange lackierten Nägeln, haben ihre Szenen schon abgedreht. Von einem schattigen Platz am Rand schauen sie den Anderen zu. Eine besondere Erfahrung sei die Arbeit vor der Kamera, darin sind sich die beiden einig. Wie die meisten der insgesamt 13 Mitglieder gehören sie seit den Anfängen zum Ensemble des Jugendclubs, der seit mittlerweile drei Jahren unter der Leitung von Barbara Büchmann und Alexander Peiler steht.

Schon vor Corona hat das Team Strindbergs Traumspiel gemeinsam für die aktuelle Produktion ausgewählt, welche zusätzliche Bedeutung das Symbol der Tür und das zentrale Motiv der Freiheit gewinnen würden, sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar gewesen. Ebenso wenig, wie der komplett neue Ablauf, nachdem der Spielbetrieb der Theater landesweit offiziell eingestellt wurde. Über regelmäßige Zoom-Meetings und das isolierte und doch gemeinsame Proben vor der Webcam habe es die Gruppe trotzdem geschafft, den Kontakt zu halten. Mit dem Entwickeln von Szenen auf der Bühne lassen sich die Vorbereitungen via Zoom nicht vergleichen. „Es ist schwieriger, aus sich raus zu kommen“, resümiert Luna, und erst danach werde man sich der ungewohnten Anstrengung bewusst.

Ein langer Drehtag geht zu Ende. Inzwischen ist es früher Abend und das Kamerateam beginnt, Teile der Ausrüstung abzubauen. Auf dem Weg zum fertigen Projekt steht ein großer Teil der Arbeit noch bevor – weitere Zoom-Aufnahmen, die Musikauswahl und das Schneiden der Szenen zum Beispiel –, unter welchen Bedingungen und Auflagen auch immer. „Wir machen weiter“, erklärt Luca stellvertretend für das Ensemble. Trübsal blasen sei schließlich keine Alternative. Bei Strindberg bleibt offen, was die Welt hinter der verheißungsvollen Tür bereithält. Einen Grund zur Hoffnung gibt es: „Aber der Herbst ist mein Frühling, denn dann wird das Theater wieder eröffnet…!“