Abseits der üblichen Pfade von Gatsby und Co. haben wir uns auf die Suche begeben und eine Liste entdeckungswürdiger und lesenswerter Romane und Erzählungen zusammengestellt, die in den 1920ern erstmals veröffentlicht wurden. Dass unsere Auswahl nur einen kleinen Teil dieses abwechslungsreichen Jahrzehnts abbildet, versteht sich von selbst – wir lesen weiter und vielleicht folgt ja schon bald die nächste Liste…
*1920*
Kerstin empfiehlt:
Agatha Christie – Das fehlende Glied in der Kette
Als Emily Inglethorps Hausgäste mitten in der Nacht von den schweren Krämpfen ihrer Gastgeberin geweckt werden, finden sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer verschlossen und ihre Bewohnerin nach dem Aufbrechen des Schlosses allein sterbend in ihrem Bett vor. Ihre letzten Worte: der Name ihres Mannes. Schnell kann die Todesursache auf eine Strychninvergiftung zurückgeführt werden und bald werden Vermutungen laut, die die Rolle des Witwers hinterfragen. Doch Mr. Inglethorp befand sich in der fraglichen Nacht nicht auf Styles, dem Gut der Verstorbenen, und scheint über jeglichen Zweifel erhaben. Die Umstände werden immer verzwickter und es braucht die Beobachtungsgabe und kleinen grauen Zellen eines Hercule Poirots, um den Mörder schließlich seiner gerechten Strafe zuzuführen.
Agatha Christies Debütroman, hierzulande auch bekannt unter dem Titel Das geheimnisvolle Verbrechen in Styles in Anlehnung an den Originaltitel, wurde bereits 1914 verfasst, bevor er 1920 in den USA und im darauf folgenden Jahr in Großbritannien veröffentlicht wurde. Er bildet den Auftakt zu einer 33 Bände umfassenden Romanreihe um den belgischen Detektiv Hercule Poirot, der zudem der Held zahlreicher Kurzgeschichten ist und den weltweiten Ruhm seiner Erfinderin begründete, die nicht umsonst bis heute als Queen of Crime bekannt ist.
*1921*
Larissa empfiehlt:
Luigi Pirandello – Sechs Personen suchen einen Autor
Personengruppen, die lautstark im Foyer diskutieren, Paare, die sich streiten, ein aufgebrachter Regisseur, der ins Geschehen eingreift: Wenn das ganze Theater zur Bühne wird und die Gäste nicht mehr wissen, ob das, was sich vor ihren Augen abspielt Realität oder Teil der Aufführung ist, dann ist eine Inszenierung im Sinne Luigi Pirandellos als durchaus gelungen zu bezeichnen. In seinem bekanntesten Stück Sechs Personen suchen einen Autor erschafft er ein doppelbödiges Verwandlungsspiel, das die (Un-)Möglichkeiten des Dramas auf die Spitze treibt.
Mehr oder weniger unmotiviert probt darin eine Schauspieltruppe gemeinsam mit dem Theaterdirektor ein neues Stück – eine Komödie von einem gewissen Pirandello –, als unerwartet sechs Personen die Probe unterbrechen. Bei den rätselhaften Gestalten handelt es sich um Theaterfiguren, die auf der Suche nach einem Autor sind. Kurzum: um Produkte der Phantasie, deren Geschichte ersonnen, aber nicht zu Ende erzählt wurde. Bis zu eben jenem Moment, als sie auf der Bühne stehen…
Mit seinem Ansatz, das Theater selbst in seinen Stücken zum Thema zu machen, brach der italienische Autor und Dramatiker mit dem Illusionstheater und wurde so zum Vorreiter des modernen Dramas. Die Uraufführung von Sechs Personen suchen einen Autor im Mai 1921 verursachte zunächst einen Eklat, innerhalb kurzer Zeit jedoch wurde das Auftaktstück der „Trilogia del teatro sul teatro“ zum großen Erfolg und hält sich bis heute auf den Bühnen der Welt.
*1922*
Larissa empfiehlt:
David Garnett – Dame zu Fuchs
Eine elegante, in Pelz gehüllte Dame war im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts kein seltener Anblick, für die frisch verheiratete Silvia Tebrick gehört das Fellkleid aber wohl oder übel zu ihrer täglichen Garderobe: Bei einem gemeinsamen Waldspaziergang mit ihrem Mann verwandelt sich die junge Frau von einem Moment auf den anderen in eine Füchsin. Zunächst entgeistert, reagiert Mr. Tebrick erstaunlich umsichtig und trifft sämtliche Vorkehrungen, um das Leben mit Silvia wie gewohnt fortzuführen und ihre menschlichen Züge zu erhalten. Dass die Fähe trotz aller Mühen ihren erwachenden animalischen Instinkten nachkommen will, ist nur eine Frage der Zeit.
Mythos, Symbolik, Gesellschaftskritik – David Garnetts 1922 erschienener Debütroman, der im Original den Titel Lady into Fox trägt, eröffnet einen großen Deutungsspielraum. Neben seinem schriftstellerischen Wirken war Garnett (1892-1981) Buchhändler, Verleger, Kritiker und Mitglied der legendären „Bloomsbury Group“ um Virginia Woolf. Dem Schweizer Dörlemann Verlag ist es zu verdanken, dass Garnetts hierzulande in Vergessenheit geratenes Debüt nach mehr als sechzig Jahren wieder in deutscher Übersetzung vorliegt. Vielmehr eine Erzählung oder ein Kurzroman, besticht der schmale Band nicht zuletzt durch die elegante Sprache, in der die wundersame Geschichte der Dame im Fuchspelz auf ernsthafte Weise geschildert wird.
*1923*
Kerstin empfiehlt:
Leo Perutz – Der Meister des jüngsten Tages
Der angesehene österreichische Hofschauspieler Eugen Bischoff hat zu einer Abendgesellschaft eingeladen. Neben seiner Frau Dina und deren Bruder nehmen daran auch ein Arzt, ein Freund des Schauspielers sowie Gottfried Adalbert Freiherr von Yosch und Klettenfeld teil, der früher einmal mit Bischoffs Frau liiert war. Auf Drängen seiner Gäste will Bischoff nach dem Essen eine Kostprobe seiner neuesten Rolle zum Besten geben und zieht sich zur Vorbereitung in den Gartenpavillon zurück. Doch anstatt dass er als Richard III. wieder daraus hervortritt, erschüttern zwei Schüsse die abendliche Stimmung und künden vom Selbstmord des Gastgebers. Schnell werden Vorwürfe laut, von Yosch sei ihm in den Garten gefolgt und habe ihn zu der Tat getrieben, aus Rache für seine Heirat mit Dina, doch dieser bestreitet seine Schuld, selbst als Beweise auftauchen, die vermeintlich gegen ihn sprechen.
Was sich zuerst als simpler Krimi darstellt, entpuppt sich bald als ein weitaus komplexeres Schauspiel, bei dem die Grenzen von Wahrheit, Wahrnehmung, Realität und Wahn verschwimmen und das den Leser bis zum spektakulären Schluss in seinen Bann zieht.
Leo Perutz, in Prag geboren und jüdisch-spanischer Abstammung, verdiente seinen Lebensunterhalt als Versicherungsmathematiker bei derselben Versicherungsgesellschaft, die auch Kafka beschäftigte. Der Meister des jüngsten Tages gehört zu seinen erfolgreichsten Romanen und erfreut sich auch heute noch einiger Bekanntheit, wozu nicht zuletzt beigetragen haben dürfte, dass Jorge Luis Borges ihn zu den größten Kriminalromanen des 20. Jahrhunderts zählt.
*1924*
Anthoula empfiehlt:
Alfred Döblin – Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord
In den 1920ern erregte ein Kriminalfall besonders großes Aufsehen in Berlin: Die 23-jährige Ella Klein wurde am 19. Mai 1922 wegen des Giftmordes an ihrem Mann, Willi Klein, festgenommen, der am 1. April desselben Jahres im Krankenhaus starb. Ihre Freundin, Margarete Nebbe, und deren Mutter, Marie Riemer, standen fast ein Jahr später ebenfalls vor Gericht. Frau Riemer wurde beschuldigt, von dem geplanten Mord gewusst zu haben. Ihre Tochter wurde angeklagt, den Mord mit ihrer Freundin zusammen geplant und ausgeführt zu haben.
Alfred Döblin nahm diesen Mordfall als Vorlage, um seine Erzählung Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord zu verfassen: Im November 1919 lernt die 19-jährige Friseurin Elli in Berlin-Lichterfelde den Tischler Link kennen. Die beiden führen kein glückliches Eheleben, da Link zu Wutausbrüchen neigt. Um die Ehe zu retten, beschließt Link mit seiner Frau im Sommer 1921 umzuziehen. Margarete Bende, ihre 25-jährige Nachbarin, wird auf Elli aufmerksam und freundet sich mit ihr an. Ellis Ehemann wird jedoch wieder handgreiflich und sie beschließt, ihren Mann unauffällig mit Gift zu töten. Ihr gelingt der Mord, aber ihre Tat wird aufgedeckt. Sie und ihre Komplizin Margarete werden daraufhin im Mai 1922 festgenommen.
Döblin verändert in seinem Werk lediglich die Namen der Angeklagten und gibt eine faktische Falldarstellung des Giftmordes wieder. Dieses literarische kleine Werk ist zwar weniger bekannt als sein Roman Berlin Alexanderplatz, aber aus diesem Grund nicht weniger lesenswert.
*1925*
Larissa empfiehlt:
Sigismund Krzyzanowski – Der Club der Buchstabenmörder
Was passiert, wenn eine Gruppe Schriftsteller das geschriebene Wort zum Feind erklärt und fortan eine imaginäre Bibliothek erschafft, die aus improvisierten, mündlichen Erzählungen besteht? Hier liegt der Ausgangspunkt von Sigismund Krzyżanowskis in mehrfacher Hinsicht phantastischem Roman Der Club der Buchstabenmörder, der zwischen 1925 und 1926 entstand, zu Lebzeiten des Autors aber nie gedruckt wurde. Im Moskau der 1920er Jahre gerät der namenlose Erzähler in die obskuren Kreise eben jener titelgebenden Geheimgesellschaft und erfährt im Laufe der wöchentlichen Zusammenkünfte, wie sich die Macht der Buchstaben zu verselbständigen droht.
Der sowjetische Autor Sigismund Krzyżanowski wurde 1887 in Kiew geboren und verfasste ein umfangreiches Werk aus Erzählungen, Theaterstücken, Essays, Drehbüchern und Librettos. Seine vielschichtigen, von metafiktionalen (De-)Konstruktionen und philosophischen Reflexionen geprägten Texte waren in konformistischen Sowjetzeiten als „zu intellektuell“ verschrien, erst ab 1989 wurde Krzyżanowski postum auch in Russland veröffentlicht und prägte damit rückblickend die Russische Moderne. Dass Der Club der Buchstabenmörder in deutscher Übersetzung vorliegt, ist nicht nur ein Glück für Fans Edgar Allan Poes, Jorges Luis Borges’ oder Vladimir Nabokovs, mit denen Krzyżanowski erzählerische und stilistische Gemeinsamkeiten teilt. Statt weitere Vergleiche anzustellen, lässt man diesen faszinierenden und fast vergessenen Roman aber am besten für sich selbst sprechen.
*1926*
Ben empfiehlt:
Kurt Schwitters – Die Zoologische Gartenlotterie
Herr und Frau Schulze finden eines Tages einen unerwarteten Brief in ihrer Post. Der Inhalt entpuppt sich schnell als Reklame für eine Verlosung der zoologischen Gartenlotterie. In der Hoffnung, vielleicht eine Gans zu gewinnen, kauft Herr Schulze ein Los. Seine Nachbarn tun es ihm gleich. Als nach wenigen Wochen die Gewinner verkündet werden, gerät das ganze Haus in Aufruhr. Schließlich hatte das Ehepaar Schulze einen Löwen und die Nachbarn ein Nilpferd sowie zwei Paar Steinböcke gewonnen. Trotz aufrichtiger Bemühungen scheitert die Tierhaltung allerdings in allen drei Fällen: Frau Schulze wacht eines Nachts ohne ihren rechten Arm auf und kann diesen auch nirgends wiederfinden. Frau Schönwetter, die für das Nilpferd extra ihre Küche geflutet hatte, sieht sich durch die unter ihr wohnenden Mietern mir Beschwerden über Regen im Schlafzimmer konfrontiert. Und Herr Gleichwitzen, dem die zwei Paar Steinböcke durch sein möbliertes Zimmer tanzen, fürchtet um seine wertvolle Keramiksammlung an den Wänden.
Kurt Schwitters, der die Groteske 1926 in den Westfälischen Neuesten Nachrichten veröffentlichte, wird häufig dem Dadaismus zugeschrieben, obwohl er sich selbst von dieser Zuordnung distanzierte. Aufmerksamkeit erlangte er vor allem für sein bildkünstlerisches Werk und die zwischen 1923 und 1932 erarbeitete Ursonate. Viele seiner Arbeiten fanden Eingang in die von ihm herausgegebene avantgardistische Zeitschrift Merz, die interessierten Leser*innen auf der Internetseite der Digital Library der Universität Iowa zur Verfügung steht.
*1927*
Larissa empfiehlt:
Franz Hessel – Heimliches Berlin
Ein Tag im Berlin des Jahres 1924 – alles scheint möglich in diesem Tag-und Nachttaumel zwischen Pensionszimmern, Salons, Bars und Kabaretts, den Franz Hessel zum Schauplatz seines erstmals 1927 veröffentlichten Romans macht. Von poetischer Sprache und gleichzeitig leicht erzählt, entführen die dreizehn kurzen Kapitel in die Berliner Künstler- und Intellektuellenwelt jener Zeit. Im Mittelpunkt steht das Liebeswirrwarr um den jungen Student Wendelin, die verheiratete Karola und deren Mann Clemens, darum herum gruppiert sich eine bunte Gesellschaft aus Bohémiens.
Franz Hessel (1880-1941), Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und nicht zuletzt Flaneur, ist heutzutage einem großem Publikum vor allem durch seine Berlin-Streifzüge bekannt, die 1929 unter dem Titel Spazieren in Berlin veröffentlicht wurden. Dass es sich lohnt, seine Prosa zu entdecken und mehr als einmal zu lesen, zeigt die im Lilienfeld Verlag erschienene und mit einem informativen Nachwort versehene Neuauflage seines schmalen, überraschend dichten Romans Heimliches Berlin. Hessel zeichnet mit feinen Strichen das Portrait einer schillernden Gesellschaft, die, so entsteht der Eindruck, es so wohl nur zu dieser Zeit und an diesem Ort geben konnte.
*1928*
Lara empfiehlt:
Federico García Lorca – Romancero gitano
Federico García Lorca ist unbestritten einer der bekanntesten spanischen Dichter und Dramatiker. Der gebürtige Andalusier wirkte während seines Studiums in Madrid in der florierenden Künstler- und Intellektuellenszene mit und verkehrte dort in denselben Kreisen wie der Maler Salvador Dalí und der Filmemacher Luis Buñuel.
Romancero Gitano ist eine Sammlung von 18 Gedichten, die zwischen 1924 und 1927 verfasst wurden. Sie greifen die traditionelle lyrische Form der Romance auf, sind aber mit deutlich weniger traditionellen Inhalten befüllt: In den einzelnen Gedichten stehen jeweils durch die Gesellschaft marginalisierte Figuren (gitano bedeutet Zigeuner) im Mittelpunkt. Das Beschriebene zeichnet sich durch eine experimentelle, surrealistische Darstellung aus, die voller gleichsam faszinierender wie grausamer Bilder steckt. Es ist die Sprache von Liebe und Schmerz, Gewalt und sozialer Ausgrenzung.
Die Gedichtsammlung wurde unter dem Titel Zigeunerromanzen ins Deutsche übersetzt, wer jedoch der spanischen Sprache mächtig ist, der*dem sei die Lektüre im Original empfohlen.
*1929*
Kerstin empfiehlt:
Vicki Baum – Menschen im Hotel
Glamour, Geld, Stars und Stützen der Gesellschaft – die High Society Berlins gibt sich in einem Luxushotel in Berlin die blankpolierte Klinke in die Hand. Doch hinter der Fassade und den geschlossenen Zimmertüren tun sich Abgründe auf. Depressionen, Drogensucht, Verzweiflung, Elend und Lebensmüdigkeit sind hier ebenso zu Hause, wie die Menschen, die unter ihnen leiden. In ihrer Milieustudie widmet sich Vicki Baum den Schattenseiten der modernen Gesellschaft der 1920er Jahre. Vom verarmten Baron Gaiger, der sein Glück in der Welt der Kleinkriminellen sucht, über die ehemals weltberühmte und begehrte doch jetzt leider verblühte Balletteuse Grusinskaja und den reichen, aber moralisch korrumpierten Industriellen Preysing bis hin zum todgeweihten Angestellten Kringelein auf der Suche nach einem letzten Hurra entfaltet Baum das unerbittliche Panorama einer Zeit, die rückblickend als golden bezeichnet wird. Dass der Roman bei aller Gesellschaftskritik dennoch nicht schlicht deprimiert, liegt nicht zuletzt an dem feinen Humor der neuen Sachlichkeit, der bis heute seine Wirkung nicht verfehlt.
Baum, die 1938 von den Nationalsozialisten ausgebürgert wurde und daraufhin in die USA auswanderte fand auch dort ein interessiertes Publikum für ihren bekanntesten Roman. So wurde der Roman sowohl am Broadway aufgeführt als auch mit Greta Garbo in der Rolle der alternden Ballerina in Hollywood verfilmt.