Am 21. März 2020 ist Indiebookday! Ursprünglich auf Initiative vom mairisch Verlag entstanden, wird seit 2013 mit diesem alljährlich im März stattfindenden Ehrentag der Blick auf die vielen unabhängigen Verlage gelenkt, die mit ihrem Engagement, ausgesuchten Programmen und aufwändiger Buchgestaltung die Verlagslandschaft bereichern. Zu diesem Anlass haben wir eine Liste mit Indiebook-Empfehlungen der Redaktion zusammengestellt.
Lara empfiehlt:
Gilles Deleuze und Félix Guattari – Rhizom (Merve Verlag)
Rhizom gehört bis heute zu den am besten verkauften Büchern des Merve Verlags, der 1970 gegründet wurde. Das Verlagsprogramm ist philosophisch, politisch und kunstgeschichtlich ausgerichtet; wer selbst einen Blick auf die angebotenen Bücher werfen möchte, sollte sich die graphisch herausstechende Homepage des Verlags nicht entgehen lassen.
Das kooperativ von Gilles Deleuze und Félix Guattari verfasste Buch Rhizom wurde erstmals 1976 in Paris und 1977 in Deutschland bei Merve veröffentlicht. Darin verhandeln der Philosoph und der Psychologe die Anwendung des aus der Botanik stammenden Begriffs des Rhizoms auf das Schreiben von Texten: So wie ein pflanzliches Rhizom kein Zentrum besitzt, sondern ein verwobenes Sprossknotensystem darstellt, sollen Texte (und auch andere Netzwerkstrukturen) enthierarchisiert wachsen und funktionieren. Die Autoren schlagen Multidimensionalität als Prinzip vor, das eine komplexe und sich stetig wandelnde Struktur zur Folge hat und (gedankliche) Grenzen aufbricht.
Die Lektüre ist faszinierend und inspirierend, Deleuzes und Guattaris Gedankengänge zu verfolgen spannend: Rhizom wurde unter der selbst auferlegten Prämisse eines rhizomatischen Vorgehens geschrieben, weshalb sich der Text stellenweise ein wenig unzusammenhängend liest, später jedoch zumeist auf bereits angerissene Aspekte zurückgreift und diese weiterverhandelt.
Nadine empfiehlt:
Ae-Ran Kim – Mein pochendes Leben (Cass Verlag)
Im Cass Verlag, der sich auf japanische und koreanische Literatur spezialisiert, erschien 2017 diese berührende Geschichte eines kranken Jugendlichen. Arum ist sechzehn Jahre alt und leidet unter Progerie, sodass er vorzeitig und in enormem Tempo altert. Mittlerweile sieht er doppelt so alt aus wie sein eigener Vater und die hohen Behandlungskosten und ständigen Krankenhausaufenthalte treffen die Familie hart. Doch nachdem in einer Dokumentation über Arums Leben berichtet wird, meldet sich die ebenfalls kranke So-Ha bei ihm und zum allerersten Mal fühlt er sich wirklich verstanden.
Die südkoreanische Autorin brilliert darin, ihrer schlichten und zurückhaltenden Sprache an den richtigen Stellen Poesie zu verleihen. Arums Geschichte ist traurig, die Grundstimmung auch eher melancholisch und der Junge wächst seinen Leser*innen schnell ans Herz. Trotz alldem hat der Roman auch seine (tragi)komischen Momente. So gelingt Ae-Ran Kim ein einfühlsames und zartes, aber niemals kitschiges Werk über das Altern, die Liebe und das Leben an sich.
Larissa empfiehlt:
Hugo von Kupffer – Reporterstreifzüge (Lilienfeld Verlag)
„Ungeschminkte Bilder aus der Reichshauptstadt“ nannte der Journalist Hugo von Kupffer (1853-1928) seine Reportagen, die unter dem Titel „Reporterstreifzüge“ von 1886 bis 1892 im ‚Berliner Lokal-Anzeiger‘ erschienen. Weniger als feuilletonistischer Schreibtischtäter, sondern vielmehr als rasender Reporter der ersten Stunde kann von Kupffer gesehen werden, etablierte er doch mit seinen nach amerikanischem Vorbild verfassten Streifzügen eine neue Form des Journalismus.
Von Kupffer erkundete die Straßen Berlins, recherchierte vor Ort und am Puls der Zeit, immer mit dem Ziel, sich ein eigenes Bild vom Alltag der rasant wachsenden Stadt zu machen und dieses einer breiten Leserschaft zu präsentieren. Dazu begab er sich in die Berliner „Unterwelt“ – sowohl in die Kanalisation als auch in die finsteren Ecken des Nachtlebens –, interviewte den stadtbekannten Scharfrichter und ließ sich die Funktionen der städtischen Wasserwerke erklären. Auch Cafés, Theater und die Eigentümlichkeiten der Berliner Straßenschilder lieferten von Kupffer Material für seine stimmungsvollen Momentaufnahmen der Großstadt. Was die Texte so lesenswert macht, sind zum einen die humorvollen, fein-ironischen Schilderungen von Kupffers, zum anderen der außergewöhnliche Blickwinkel auf eine Zeit der Entwicklung, der sich auch heutigen Leser*innen zu eröffnen vermag.
Die gesammelten Reportagen sind in hochwertiger Ausstattung (Halbleinen, Fadenheftung, Leseband) im Lilienfeld Verlag erschienen. 2007 in Düsseldorf gegründet, hat sich der Verlag der (Wieder-)Entdeckung vergessener, seltener oder unbekannter Werke aus Literatur und Zeitgeschichte verschrieben.
Anthoula empfiehlt:
Stefan Andres – Der Knabe im Brunnen (Wallstein Verlag)
Der Wallstein Verlag ist bekannt für seine schönen Editionen, wissenschaftliche Werke und Gegenwartsliteratur. Der im Jahre 2012 erschienene Roman Der Knabe im Brunnen hebt sich jedoch besonders ab. Andres schildert seine Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine einfallsreiche und humoristische Art und Weise. Die fantasievollen und kindlichen Erinnerungen und Eindrücke seines jüngeren Ichs spiegeln sehr die Natur und das Moselland, in dem er aufgewachsen ist, wider. Er träumt sehr viel – und das in einem dramatischen Zeitalter, nämlich vor dem Ersten Weltkrieg und während der Kriegszeit. In seinem Roman wirft er auch philosophische, existentielle und religiöse Aspekte ein, die die Leser*innen zum Nachdenken anregen sollen.
Kerstin empfiehlt:
Nino Haratischwili – Juja (Verbrecher Verlag)
Juja ist kein einfacher Roman. Die Sätze erscheinen am Anfang sperrig, die Bedeutung unklar, manchmal vielleicht sogar abstoßend. Und doch legt man das Buch nicht so bald wieder aus der Hand, wird hineingezogen in den Sog der Geschichte, die auf wahren Tatsachen beruht. In den 70ern wurde das nach ihrem Freitod gefundene Manuskript einer jungen Frau, bei Haratischwili heißt sie Jeanne Sarré, zum feministischen Kultbuch der literarischen Unterwelt. In ihrem Debütroman erzählt Haratischwili von der Anziehungskraft dieses Textes, den dramatischen Folgen, die sich für viele junge Leserinnen entwickelten, und fabuliert ein Mysterium um die Geschichte seiner Veröffentlichung.
Das Buch selbst bleibt nicht zuletzt aufgrund seiner Aufmachung im Gedächtnis: Das für den Verlag typische schlichte, aber zugleich plakative Cover und die ungewöhnliche Wahl der Druckfarbe heben den Roman aus der breiten Masse der Veröffentlichungen heraus.
Der Verbrecher Verlag, der dieses Jahr sein 25-jähriges Jubiläum feiern kann, hat sich auf Belletristik spezialisiert, veröffentlicht aber auch ausgesuchte Sachbücher sowie Kinder- und Jugendliteratur. Sein Programm spiegelt die linke Positionierung des Verlags wider, was sich unter anderem auch im Engagement während der Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel gezeigt hat.