Gelegentlich begegnen sie einem – unsympathische literarische Figuren. Irgendwie halten sie einen auf Distanz. Das kann verärgern, vielleicht aber auch einen differenzierteren Blick ermöglichen. Wir stellen euch in dieser Bücherliste einige dieser literarischen Figuren vor, die uns bereits begegnet sind.
Nadine empfiehlt:
Christian Kracht – Faserland
Christian Krachts 1995 erschienenes Debüt begleitet den namenlosen Helden in seinen Zwanzigern auf einer Reise quer durch Deutschland. Er geht keinem Job nach, tingelt von Party zu Party und schaut, wohin er sich treiben lassen kann, während er äußerst zynisch bis nihilistisch seine Umgebung beobachtet und kommentiert.
Arroganz, Herablassung, Snobismus, Homophobie, Ignoranz und Egozentrik sind allesamt Eigenschaften, die man ihm zuschreiben kann. Und doch möchte man dieses Buch weiterlesen, denn dieser stark überzeichnete Protagonist löst unfassbar viele Emotionen in seinen Lesern aus. Und überrascht zuletzt mit einer anderen, verborgenen, verletzlichen Seite seiner selbst.
Faserland ist ein Roman, der trotz seines unausstehlichen Protagonisten – oder vielleicht gerade deswegen – hervorragend funktioniert. In all seinen Büchern erschafft Kracht kontroverse Figuren, so ist auch dieser junge Mann keine Ausnahme, wenn er auf der einen Seite ein großes Identifikations-, auf der anderen Seite ein ungeheures Reibungspotenzial besitzt.
Helena empfiehlt:
Jane Gardam – Ein untadeliger Mann
‚Old Filth‘ wird Edward Feathers, mittlerweile im Ruhestand, unter seinen zumeist jüngeren Anwaltskollegen genannt – ein Akronym für ‚Failed In London Try Hongkong‘. Tatsächlich blickt der alte Feathers auf eine glänzende Karriere als Anwalt und Richter im Hongkong der britischen Kolonialzeit zurück. Alles an ihm, von Manieren und Garderobe bis zur Berufsbiographie, scheint tadellos. Gerade das steht einer sympathisierenden Annäherung durch den Leser jedoch im Wege: Feathers wirkt unnahbar und – zumindest anfänglich – eindimensional. In seiner abgeklärten Selbstsicherheit bleibt ihm kein Blick für die Perspektiven oder die Bedürfnisse anderer. Und so kommt es, dass er sich mit der geradezu repräsentativen, aber leidenschaftslosen Ehe mit Betty zufrieden zeigt, während diese ausgerechnet zu Terry Veneering, dem verhassten beruflichen Rivalen Feathers’, eine heimliche Affäre unterhält.
Erst als Betty auf ihrem gemeinsamen Alterswohnsitz im englischen Dorset stirbt, gerät die tadellose Welt des alten Mannes ins Wanken. Verdrängte Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend als sogenannter Raj-Waise brechen hervor. Schließlich setzt er sich trotz seiner Gebrechlichkeit selbst hinter das Steuer seines Autos, um eine Reise an die Orte seiner Jugend zu unternehmen. Zwar entscheidet er sich damit für eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit seinen Erinnerungen, doch kann man sich als Leser nicht dem Eindruck entziehen, dass die episodischen Rückblenden zum jungen Edward Feathers oftmals der Perspektive des ‚Old Filth‘ verhaftet bleiben. Eine konstruktive Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Vergangenheit wird daher fragwürdig, ist doch gerade jene Perspektive das Resultat dieser. Jane Gardam gelingt es auf diese Weise, das Schicksal der sogenannten Raj-Waisen, denen sie ihren Roman widmet, kritisch zu thematisieren. Als Leser muss man Feathers weder zu Beginn noch zum Ende des Buches mögen. Aber man muss ihn verstehen.
Janina empfiehlt:
Daniel Kehlmann – Ich und Kaminski
Skrupellos, selbstgefällig und ein wenig heruntergekommen ist Sebastian Zöllner, der Protagonist dieses gelungenen Kehlmann-Romans. Als der selbsternannte Kunstkritiker auf den hochbetagten und allem Anschein nach blinden Maler Kaminski aufmerksam wird, wittert er seine große Chance, einen Bestseller zu schreiben – nur das Timing muss stimmen:
„Mein Buch durfte nicht vor seinem Tod und nicht zu lange danach herauskommen, für kurze Zeit würde er im Mittelpunkt des Interesses stehen. […] Das würde mir einen Posten bei einem der großen Kunstmagazine einbringen.“
Um sein Ziel zu verwirklichen, muss Sebastian Zöllner es irgendwie schaffen, in die Nähe des Mannes zu kommen, der durch seine Bildunterschrift “Painted by a blind man” weltberühmt wurde. Dies entpuppt sich als schwieriger als erwartet, weil der zurückgezogen lebende Ex-Shootingstar der Kunstszene von einem halben Hofstaat umgeben zu sein scheint. Weil der Roman aus der Perspektive Zöllners geschrieben ist, erhält man tiefe und bisweilen urkomische Einblicke in das Selbstverständnis eines Vollspackos, der sich selbst zu wichtig nimmt und zwischenmenschliche Interaktionen permanent falsch bewertet. Es fällt zugegebenermaßen nicht leicht, Sebastian Zöllner zu mögen, aber das zum Lachen bringen genügt ja auch: “Ekelhafte Speichellecker, widerlich, wie sie sich anbiedern” ist längst ein fester Bestandteil meines Ausdrucksrepertoires geworden.
Anthoula empfiehlt:
Jonas Lüscher – Kraft
Der Protagonist des Romans Kraft ist einer der unsympathischsten Charaktere, die mir im Gedächtnis geblieben sind. In Kraft wird die Geschichte eines unglücklichen Mannes erzählt, der in seiner Ehe gescheitert und finanziell am Ende ist. Richard Kraft ist Rhetorikprofessor in Tübingen und wird von seinem Kollegen Istvan, einem Professor aus Stanford, ins Silicon Valley eingeladen. Kraft soll an einer wissenschaftlichen Preisfrage teilnehmen, um seine Schulden zu bezahlen und seiner Frau zu beweisen, dass er doch zu etwas imstande ist.
Der Protagonist zerfließt im Roman in Selbstmitleid und gibt jedem außer sich selbst die Schuld für seine unglückliche Lebenssituation. Es handelt sich um ein Buch, welches mühselig zu lesen ist, da Kraft schon eine gewisse Kraftlosigkeit ausstrahlt und diese sich im Erzählverlauf widerspiegelt.