„Goldene Zwanziger“, „Roaring Twenties“, „Jazz Age“, „Les Années folles“: Die 1920er sind ein Jahrzehnt mit vielen Gesichtern, was bei all den Beschreibungen dieser Epoche aber immer mitklingt, ist ein Gefühl von Aufbruch, positiver Kraft und Inspiration. Die Zwanziger Jahre strahlen, ihr Glanz äußert sich in der damaligen Gesellschaft, Kunst und Literatur und übt bis heute eine große Anziehungskraft aus.
von Larissa Plath
Ein Amerikaner in Paris
Eines späten Abends spaziert ein Mann durch die Straßen von Paris. Er verläuft sich, kann aber niemanden nach dem Weg fragen, weil er kein Französisch spricht. Der Mann, ein Amerikaner namens Gil, setzt sich auf die steinernen Stufen einer Kirche. Nach kurzer Zeit schlägt die Turmuhr Mitternacht und ein alter Peugot rollt heran. Die Tür öffnet sich, ein Mann steigt aus und lädt Gil ein, zu ihm und der ausgelassenen, auffallend stilvollen Gesellschaft ins Auto zu steigen…
Die beschriebene Szene stammt aus dem Film Midnight in Paris (2011), einer der großen filmischen Liebeserklärungen an die französische Hauptstadt. Das Paris der Zwanziger Jahre war eine Insel, an der Intellektuelle, Künstler*innen und Literaten strandeten oder die sie bewusst ansteuerten. Viele kamen aus Amerika, einer von ihnen war Ernest Hemingway. „A moveable feast“, ein „Fest fürs Leben“, nannte er Paris und widmete der Stadt Jahrzehnte später unter diesem Titel ein ganzes Buch.
Als der Protagonist Gil in Midnight in Paris auf magische Weise in die 1920er gelangt, trifft er dort auf seine schriftstellerischen Vorbilder – Hemingway, Zelda und Scott Fitzgerald, Gertrude Stein, T.S. Eliot – er diskutiert Zeitreisephänomene mit den Surrealisten Salvador Dalí, Luis Buñuel und Man Ray, hört Cole Porter am Klavier zu und tanzt mit Djuna Barnes. So oft, wie ich den Film schon gesehen habe, so versonnen bin ich jedes Mal wieder und tue es Gil in seiner Begeisterung gleich.
Perspektivenwechsel
Einmal abgesehen von nostalgischen Vorstellungen der Pariser Künstler- und Literatenszene: Was passierte außerhalb dieser Insel? Die allgemeine Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre und der Wunsch nach (radikalen) kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen stießen nicht überall auf Zustimmung. Ulysses konnte nach langem Hin und Her in Frankreich veröffentlicht werden, Schnitzlers Reigen sorgte 1920 für einen handfesten Theaterskandal, die Werke des sowjetischen Schriftstellers und Satirikers Michail Bulgakow wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht.
Vielleicht macht gerade das die Kunst und Literatur dieser Jahre für mich so spannend: Denn womit kann man heute noch provozieren, schockieren? Was kann man schaffen, das anders ist, das es so vorher noch nicht gegeben hat? Wenn man sich mit ihren individuellen Geschichten beschäftigt, wenn man beginnt, Verbindungen und Einflüsse zwischen den damaligen Akteuren und ihren Werken zu erkennen, ergibt sich für mich ein faszinierendes Bild, das sich nie ganz erfassen lässt.
Zeitreisen
Knapp hundert Jahre später blicken wir aus dem Jahr 2020 zurück – wollen die 1920er literarisch und künstlerisch erkunden, uns inspirieren lassen. An den wegweisenden Namen und Werken kommt man kaum vorbei, aber das ist auch gut so. Muße haben wir genug, um unbekanntere oder in Vergessenheit geratene Geschichten zu entdecken, um (Lese-)Eindrücke, Ideen, vielleicht auch unser Staunen und Unverständnis rund um unsere Zeitreise in die „Goldenen Zwanziger“, die „Roaring Twenties“, ins „Jazz Age“ und in die „Années folles“ hier festzuhalten.
In der Zwischenzeit motiviert der Wunschglaube daran, dass, in welcher Form auch immer, das Paris der 20er weiterexistiert. Ich sitze in Gedanken auf den Stufen der Kirche Saint-Étienne-du-Mont und warte darauf, dass die Glockenuhr Mitternacht schlägt…