2029 – Geschichten von morgen (Teil 1)

Wie sieht unsere Zukunft aus? Was können wir erwarten und was müssen wir befürchten? Diese Fragen stellten Manfred Hattendorf, Leiter der Abteilung Film und Planung beim SWR, und Christian Granderath, Leiter der Abteilung Fernsehfilm, Spielfilm und Theater beim NDR , elf der interessantesten Autor*innen unserer Zeit. In Zusammenarbeit mit Stefan Brandt, Direktor des im vergangenen September eröffneten Futuriums in Berlin, und dem Suhrkamp Verlag entstand so die Anthologie 2029 – Geschichten von morgen. Wir haben uns das Ergebnis einmal genauer angesehen und präsentieren hiermit die erste Hälfte unserer Einschätzungen. Den zweiten Teil könnt ihr hier nachlesen.

 

Emma Braslavsky – Ich bin dein Mensch (Lara)
Dr. Alma Felser ist eine Paartherapeutin im Berlin der Zukunft. Sie ist verzweifelt, denn sie hält das Ideal der Liebe zwischen zwei Menschen hoch, während um sie herum die Bestellungen von Robotern, die den perfekten, weil individuell abgestimmten Partner verkörpern, ein neues Spitzenmaß erreicht. Als ihr langjähriger Freund sich von ihr trennt, hintergeht sie, mit zwiespältigen Gefühlen, ihre eigenen Moralvorstellungen und bestellt sich einen Hubot namens Tom. Er macht sie zwar glücklich – natürlich, denn genau dafür wurde er konzipiert –, aber das Ganze fühlt sich nicht richtig an. Zunächst versucht sie, Tom zu verbergen, da sie nicht nur um ihre berufliche, sondern auch um ihre zwischenmenschliche Glaubwürdigkeit fürchtet. Als ihr Umfeld jedoch von ihrem neuen Gefährten Wind bekommt, gerät Alma in Erklärungsnot, auch vor sich selbst. Es wird kompliziert.

Emma Braslavskys Kurzgeschichte ist in einer Welt angesiedelt, in der Fürsorge mit der Auswertung von statistischen Angaben über Vorlieben beim Frühstück verwechselt wird, Poesie nichts weiter als ein elektronisches Protokoll ist und die Menschen von der Sucht nach Perfektion in der Liebe getrieben werden. Das Erzählte changiert zwischen komischen Momenten, die von der kindlichen Unbeholfenheit des Hubots Tom hervorgerufen werden, und bitterbösen Beobachtungen.

Wer tiefer in Braslavskys Roboter-Welt eintauchen möchte, kann dies mit ihrem dystopischen Kriminalroman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (Berlin: Suhrkamp 2019, 22 Euro) tun.

 

Dietmar Dath – Hoffnung ruft Angst (Ben)
Deutschland, in einem Jahr irgendwann nach 2033, wüste Umstände – so lässt sich der Plot von Dietmar Daths Hoffnung ruft Angst in etwa zusammenfassen. Denn was zu Beginn noch den Eindruck einer futuristisch anmutenden Agenten-Geschichte erweckt, zerfällt nur wenige Absätze später in Einzelteile, deren Zusammenhang sich nur allmählich und nie in Gänze offenbart.

Leser*innen stoßen in dieser Kurzgeschichte auf weitere Kurzgeschichten. Einige handeln von Menschen, die vermittels an Alexa erinnernden Seepferdchenhelfern in Gestalt von Sigmund Freud oder Jesus Christus persönliche Krisen zu überwinden versuchen. Andere erzählen von der vermeintlichen Schöpferin derartiger Dienste: Tascha Baensch, die eine Art digitale Terroristin verkörpert und unter Einfluss der weit verbreiteten Droge Be einen Hacker-Angriff auf Banken, Verwaltungen sowie Universitäten und somit ebenfalls auf die soziale Infrastruktur verübt. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Art, wie die unterschiedlichen Versatzstücke erzählt werden. Während der einzelnen Szenen ist jeweils die zentrale Figur mit ihren Problemen und Sichtweisen präsent, sodass sich das Große Ganze nur im Hintergrund zu ereignen scheint und während des Lesens nicht innerhalb des ohnehin lückenhaften Kontexts verortet werden kann. Und so lässt sich Hoffnung ruft Angst am ehesten mit dem darin zitierten Ausspruch beschreiben: „Nichts Genaues weiß man nicht.“

 

Karl Wolfgang Flender – Requiem (Wiebke)
Mia Verlohren ermittelt in dem Todesfall eines wohlhabenden saudischen Staatsbürgers, der bei einer Hirn-Operation in Deutschland an Kammerflimmern gestorben ist. Eigentlich nur ein Pro-forma-Job. Da die diplomatischen Beziehungen grundsätzlich angespannt sind, hat Mia den Auftrag, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen und den Dienst nach Vorschrift abzuhaken. Schnell kommen Zweifel auf, ob der Patient, der mit Terrorfinanzierung in Verbindung gebracht wird, tatsächlich ohne Fremdeinwirkung verstorben ist. Im Zentrum der Ermittlung steht bald die Anästhesiemaschine Amadeus, die sämtliche Werte des Patienten während der Operation misst und die Medikamente dem Individuum entsprechend anpasst.

Karl Wolfgang Flender stellt in seiner Kurzgeschichte die zunehmende Automatisierung in den unterschiedlichen Lebensbereichen in Frage. Er zeigt auf was passieren kann, wenn eine Maschine wie Amadeus, die für die optimalen Überlebenschancen sorgen soll, angreifbar oder fehlerhaft ist.

 

Thomas Glavinic – Das Flackern (Kerstin)
In der Nähe des Jupiters wurden auffällige Muster entdeckt. Während Wissenschaftler aus aller Welt auf eine Wiederholung der spektakulären Ereignisse warten, um sie genauer untersuchen zu können, verfolgt der Rest der Menschheit gebannt die multimediale Berichterstattung. Unsicher, ob es sich bei dem unglaublichen Phänomen um Betrug oder doch um Nachrichten außerirdischer Lebensformen handelt, reagieren die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise. Vor dem Hintergrund einer von vornherein imperfekten Gesellschaft, die nun immer mehr im Chaos versinkt, erzählt Glavinic die Geschichte von Maria und Raoul, deren Beziehung schon vor den Signalen im Weltraum vor dem Aus stand. Doch noch bevor das von Raoul erbetene Ultimatum von drei Wochen das Ende ihrer Beziehung bedeutet, entwickeln sich die Umstände so, dass die schlimmsten Befürchtungen der Menschheit sich zu bewahrheiten scheinen.

Für Glavinic ist Das Flackern nicht der erste Ausflug in eine postapokalyptische Dystopie. Wer allerdings die beklemmende, faszinierend dichte Atmosphäre und das zur Schau gestellte literarische Können seines brillanten 2006 erschienen Romans Die Arbeit der Nacht zu finden hofft, wird wohl oder übel enttäuscht werden.

 

Olga Grjasnowa – Neu-Berlin (Lara)
Das namensgebende Neu-Berlin ist eine der drei Zonen, die nach einer nicht näher definierten großen Revolution im Jahr 2048 gebildet wurden. Dort leben gesunde und wohlhabende Menschen. Im sogenannten Regierungsviertel residieren die wichtigen Angestellten der Krankenkasse, die nun die machthabende Regierungsinstitution ist. All jene, die übrig bleiben, leben in Alt-Brandenburg und müssen für ihren Lebensunterhalt auf Feldern und in Fabriken schuften.

Die „freien“ Bürger Neu-Berlins radeln, wie Tiere gechipt und wie Verbrecher mit Fußfesseln ausgestattet, durch die Straßen, denn Autos wurden abgeschafft. Alles, vom Kinder-Kriegen über Ernährung bis hin zur Partnersuche, ist optimiert und wird dem System überlassen. Das Wort ‚privat‘ ist inhaltsleer, denn der Einzelne gehört der Gesellschaft und hat outputorientiert zu funktionieren.

Das Setting der Kurzgeschichte ist allenfalls als eine Neuinterpretation bereits bekannter dystopischer Motive zu bezeichnen, die jedoch anschaulich und unterhaltsam umgesetzt werden. Obwohl sich zu Beginn der Erzählung der Eindruck breit macht, dass der weitere Verlauf der Handlung vorausschaubar ist – was nicht heißen soll, dass das Lesen keine Freude bereitet –, wartet Grjasnowa mit einigen interessanten Überraschungen auf.

 

Vea Kaiser – Ewiger Frieden (Larissa)
Schauplatz von Vea Kaisers Zukunftsszenario ist der Stadtstaat „Groß-Hamburg“, ein Ort, in dem (Selbst-)Optimierung in jeder erdenklichen Hinsicht an erster Stelle steht. Angefangen bei der richtigen Ernährung über ständige Biodaten-Checks bis zu zwischenmenschlichen Beziehungen (Reproduktion statt Partnerschaft und Liebe) ist alles auf die einzelne Person passgenau abgestimmt – und sollte wider Erwarten ein Problem auftreten, sorgt der „Peacemaker“ im Handumdrehen für beruhigende Musik, Stimmungspillen und Wohlfühlatmosphäre. Hier lautet die Devise nicht „Big Brother“, sondern MONITOR „is watching you“, denn zum Wohl der Gemeinschaft zeichnet das System permanent auf, speichert Daten und wertet sie aus. Für die 28-jährige Karla gehören die zahlreichen Optimierungsfunktionen zum Alltag und ein Leben „in den Wäldern“, das heißt außerhalb der Groß-Hamburg umgebenden Mauern, wäre für sie unvorstellbar. Eine Ausweisung dorthin droht ihrer Großmutter Nana, die sich im Gegensatz zu ihrer Enkelin nicht immer an die vorgeschriebenen Regeln hält – ein Anflug von Selbstbestimmtheit, der innerhalb der Gemeinschaft als asoziales Verhalten gilt, das den zwischenmenschlichen Frieden gefährdet. Karla fürchtet ein Leben ohne die letzte ihr bleibende Bezugsperson und beschließt, ihre Großmutter zur Vernunft zu bringen.

Kaiser zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der die „Gemeinschaft“ mehr zählt als das Individuum und Kultur und Religion keine Rolle mehr spielen. Mehr als eine kurzweilige Geschichte gelingt allerdings nicht: dazu sind die von ihr verwendeten dystopischen Motive und Konstellationen allzu bekannt.

 

Zum zweiten Teil der Rezension geht es hier entlang.

 

Der Suhrkamp Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.