Zwischenräume der Geschichte: Das Schauspiel Wuppertal zeigt Thomas Köcks „atlas“

Drei Generationen und ihre individuellen Geschichten: Die Figuren in Thomas Köcks "atlas" (v.l. Thomas Braus, Julia Meier, Philippine Pachl, Julia Wolff). Foto: Uwe Schinkel

„Was heißt das, aus der Zeit fallen?“ Ausgehend von dieser Überlegung ergießt sich ein Redestrom aus Fragen, Reflexionen und Wortabwägungen, vorgebracht von drei Frauen und einem Mann, mal abwechselnd, mal chorisch, immer vielstimmig. Am Anfang noch als vier still sitzende Schattenfiguren hinter einer Reihe milchiger, halbhoher Leinwände verborgen, treten sie hervor, um die Zeit in eine Ordnung zu bringen, um ihre Geschichten und damit sich selbst zu erzählen.

von Larissa Plath

Für sein Anfang 2019 in Leipzig uraufgeführtes Werk atlas wurde der österreichische Dramatiker Thomas Köck mit dem Mülheimer Dramatiker- und Publikumspreis ausgezeichnet. Aktuell ist das Sprechstück unter der Regie von Jenke Nordalm in einer Inszenierung des Wuppertaler Schauspiels zu sehen. Zeit und Geschichte bilden das Gerüst für den Kontext aus Flucht, Wiedervereinigung und Arbeitsmigration, der in atlas anhand der Biographien von vier Personen und drei Familiengenerationen in Vietnam und Deutschland exemplarisch reflektiert wird. Erst nach und nach fügen sich die Erzählebenen und Figurenbeziehungen zu einem komplexen Ganzen.

Man gab mir eine neue Geschichte

Nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 flieht eine Frau (Julia Wolff) mit ihrer Tochter aus Saigon. Auf der Fahrt zur malaysischen Insel Pulau Bidong kentert das Schiff, Mutter und Tochter werden getrennt. Die Frau kommt als Kontingentflüchtling nach Westdeutschland, später kehrt sie zurück nach Vietnam. Entgegen der Annahme ihrer Mutter überlebt die Tochter (Philippine Pachl), wird adoptiert und reist Ende der 1980er als Vertragsarbeiterin in die DDR ein, wo sie in einer Textilfabrik arbeitet. Sie lernt einen Dolmetscher (Thomas Braus) kennen, die beiden bekommen eine gemeinsame Tochter, aber nach der Wende droht die Abschiebung. Dreißig Jahre später reist ihre nun erwachsene Tochter (Julia Meier) von Deutschland nach Saigon, im Gepäck ein Foto ihrer Mutter, und strandet an einem Flughafen. Vulkanausbruch, eine Weiterreise ist nicht möglich, Wartezeit, „delay“ heißt es immer wieder.

Wo sonst als an diesem Nicht-Ort könnten die verschiedenen Identitäten und ihre gemeinsame (Lebens-)Geschichte zusammenfinden? Wenige Requisiten wie ein Rollkoffer und eine Nähmaschine, das zurückgenommene Bühnenbild in Form einer halbrunden Schrägen-Konstruktion auf der Drehbühne, viel mehr braucht es im Theater am Engelsgarten nicht. Dazu Projektionen im Hintergrund, deren Bildsprache eine ganz eigene assoziative Präsenz gewinnt – Wolken, Meer, Plattenbauten, aber auch Sätze auf Vietnamesisch und Deutsch, schwarz-weiß Fotos von vietnamesischen Frauen und Männern sind dort zu sehen. Sie bieten Orientierung inmitten der zahlreichen Erzählsprünge durch Zeit und Raum, schaffen gleichzeitig Anknüpfungspunkte zur Realität im Hier und Jetzt. So gelingt es der Wuppertaler Inszenierung den Fokus auf das zu legen, was sich schon am Anfang des Stücks als zentrales Thema abzeichnet: Die Bedeutung von Zeit, ihre Formung in individuelle Geschichten und Geschichte zu dem, was (nicht) erzählt wird.

…fast als würde man nur erzählen, um von den Rissen abzulenken…

Köcks offen gestaltete, im wahrsten Sinne des Wortes formlose Vorlage erfordert es, den einzelnen Figuren nach eigenem Ermessen Textpassagen zuzuordnen, sie je nach Situation einzeln oder gemeinsam sprechen zu lassen. Das Wuppertaler Ensemble manövriert sich gekonnt durch diese gedankenstromartigen Wortkaskaden und legt dabei eine beeindruckende Sicherheit an den Tag. Die verschiedenen Stimmen überlagern sich, verschmelzen hier und da und erzeugen eine Zeitlosigkeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Figuren mit- und nebeneinander existieren.

Ihre exemplarischen Lebensgeschichten bilden die Ankerpunkte und rücken Ereignisse in den Mittelpunkt, die in der Geschichtstradierung beinah überlagert scheinen: Das Schicksal der aus Südvietnam geflohenen Boatpeople am Beispiel der Großmutter, die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter, die wie die junge Frau in Köcks Stück mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in den „Bruderstaat“ DDR kamen. Dorthin, wo sich das vielversprechende „Willkommen in der Freiheit“ als Farce herausstellt und spätestens mit der Wiedervereinigung und dem neu entdeckten „Wir“-Gefühl Deutschlands zu einem ‚wir gegen sie‘ wird. „Wem gehört die Zeit, wer besitzt sie am Ende eigentlich?“, fragt der Chor. Was bedeutet es, zeitlos zu sein, nicht in der richtigen Zeit zu sein, aus der Zeit und damit auch aus der Geschichte gelöscht zu werden?

In der vietnamesischen Sprache, so heißt es an einer Stelle im Stück, gibt es keine abgeschlossenen Zeitformen. Immer wieder werden Textpassagen in Vietnamesisch eingespielt, ergänzen den vielstimmigen Vortrag um eine weitere Ebene und verschaffen den stellvertretenden Figuren auf der Bühne und ihren Geschichten Gehör. An diesem fordernden Theaterabend wird vor dem Spiegel der Vergangenheit ein Blick auf die Gegenwart geworfen – ohne moralischen Zeigefinger verlangt das komplexe Gesamtkunstwerk dem Publikum einiges ab, regt zum Nachdenken an und ruft dazu auf, Bilder, Erzählungen und Geschichten zu hinterfragen und die gewohnte Perspektive zu erweitern.

atlas
von Thomas Köck

Termine im Theater am Engelsgarten:

So. 15. März 2020 18:00 Uhr
Sa. 04. April 2020 19:30 Uhr
So. 19. April 2020 18:00 Uhr
Fr. 29. Mai 2020 19:30 Uhr
Mi. 24. Juni 2020 19:30 Uhr

Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!

Inszenierung: Jenke Nordalm
Bühne & Kostüme: Vesna Hiltmann
Dramaturgie: Barbara Noth
Regieassistenz: Jonas Willardt
Regiehospitanz/Soufflage: Tim Klein
Inspizienz: Charlotte Bischoff, Lauren Schubbe
Produktionsleitung: Peter Wallgram

Besetzung:

Philippine Pachl: eine vertragsarbeiterin, die wieder aufgetaucht ist
Julia Wolff: ihre mutter, die zurückgekehrt ist
Julia Meier: ihre tochter, am flughafen
Thomas Braus: ein vertragsarbeiter, ein übersetzer

Sprecher*innen der vietnamesischen Texte: Vũ Bích Như, Nguyễn Ðan Hạ, Nguyễn Tường Long, Phạm Thị Lan