Was bedeutet Widerstand in einem autoritären Gesellschaftssystem? Oder: Was bedeutet Widerstand nicht? Ein Roman, der das Dazwischen aus der Perspektive der Verantwortung in den Blick nimmt.
von Helena M. Stock
Die Aufgabe der jetzt lebenden Winterbienen besteht darin, die im Frühjahr zu erwartende neue Generation der Larven warm zu halten, zu schützen und zu füttern und so das Leben des Volkes zu sichern. […] Aber Bienen sind nicht aggressiv, sie würden niemals andere Völker erobern und sie unterjochen; sie sind friedfertig, wenn sie sich nicht angegriffen fühlen.
Egidius Arimond lebt mit seinen Bienen im Einklang. Wie weit dies reicht, erfährt der Leser in dem neuen Roman Norbert Scheuers. In Form von Tagebucheinträgen, die im Winter 1944 beginnen, lernt der Leser den Protagonisten kennen: Als von den Nationalsozialisten entlassener Lehrer ist er in Kall geblieben, einem kleinen Ort in der Eiffel. Seine Arbeit als Bibliothekar und Imker reicht allerdings nicht aus, um die Medikamente gegen seine Epilepsie zu finanzieren. Von der Euthanasie blieb er vermutlich aufgrund seines prominenten Bruders verschont, einem Kampfpiloten und in der Wochenschau gefeierten Kriegshelden, der ihm ab und an Medikamente schickt. Jedoch musste Arimond eine Zwangssterilisation hinnehmen. Seine Bienen eröffnen ihm allerdings eine weitere Einnahmequelle: In Bienenkörben versteckt bringt er Flüchtlinge auf seinem Pferdekarren gegen Bezahlung an die belgische Grenze.
In seinem Nachwort provoziert Norbert Scheuer die Frage der Autorschaft: Er habe die Aufzeichnungen Arimonds von einem älteren Herrn des Ortes erhalten, zudem sei er selbst mit Arimond entfernt verwandt. Handelt es sich bei dem Roman demnach um eine vermittelte Erinnerung*? Was zunächst eine Heroisierung eines vermeintlichen Opfers der Nationalsozialisten erwarten lässt, erweist sich schon bald als differenziertere Darstellung.
Egidius Arimond handelt nicht aus Eigeninitiative. Vielmehr erhält er Aufträge von einer geheimen Organisation, die ihm in Büchern der Bibliothek versteckte Nachrichten zukommen lässt: „Offensichtlich wusste die Organisation von meinen guten Ortskenntnissen, meiner politischen Einstellung und meiner kostspieligen Krankheit und hatte vor diesem Hintergrund den Plan entwickelt […].“ Und so erwartet der Leser vergeblich, dass Arimond einen abgestürzten und verfolgten amerikanischen Piloten suchen wird, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Mit den regelmäßig auftretenden Hinweisen auf dessen Überleben wächst die Erwartung an den Protagonisten, der nur zunehmend ungeduldig auf eine Nachricht der Organisation wartet, obwohl er doch ahnt, wo der Gesuchte sich aufhalten könnte.
Arimonds Verhalten gleicht dem einer Winterbiene. Er hat eine Aufgabe, welcher er sich trotz wachsender Gefahr und sinkender Rentabilität geradezu gewissenhaft annimmt, von der er aber auch nicht abweicht. „Ich habe keine Ahnung, mit wem ich zusammen arbeite, ich möchte es auch nicht wissen. Würde ich verhört und gefoltert, ich könnte die Schmerzen nicht ertragen und würde bestimmt alles verraten“. Und so wartet er ab, kümmert sich weiterhin um die Bienen und widmet sich der Übersetzung von Schriften eines Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert, dem Benediktinermönch Ambrosius Arimond, der als Begründer der Bienenzucht in der Familie gilt.
Sein Ausharren mündet jedoch in Machtlosigkeit. Zum Kriegsende wird es zunehmend schwieriger an Medikamente zu gelangen, bis der Apotheker ihn schließlich um sein Geld betrügt, indem er sich weigert, ihm dafür das Luminal zu geben. Selbst der bewaffnete Gang des von der Krankheit Benebelten zur Apotheke, der letzte und einzige verzweifelte Versuch des Aufbegehrens, bleibt erfolglos: Die Apotheke wird von einer Bombe getroffen. Arimond ist jeglicher Mündigkeit beraubt und zum Ausharren verdammt.
Norbert Scheuers Roman Winterbienen enthält keine Heroisierung im klassischen Sinne. Anstelle einer klaren Zuweisung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, erweitert er seine Perspektive auf das Dazwischen und dessen mögliche Konsequenzen. Wer also ist Egidius Arimond? Das Urteil obliegt dem Leser.
Der C. H. BECK-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein Rezensionsexemplar in Form eines E-Books zur Verfügung gestellt.
* zur Problematik vermittelter Erinnerung vgl.: Assmann, Aleida: „1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis“. In: Assmann, Aleida / Frevert, Ute (Hg.): Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit: vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. S. 21-52; Welzer, Harald.: „‚Ach, Opa!‘ Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Tradierung und Aufklärung“. In: Birkmeyer, Jens / Blasberg, Cornelia (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006. S. 47-62.