„Woher kommst du ursprünglich?“ Diese Frage wird häufig Menschen gestellt, die ungewöhnlich klingende Namen haben oder Worten eine gewisse Akzentuierung beimischen. Die Begriffe Herkunft und Heimat sind die vorrangigen Themen im aktuellen Roman von Saša Stanišić mit dem Titel Herkunft.
von Marajka Parplies
Saša Stanišić fragt sich in seinem aktuellen Roman: Wie kann man die Herkunft in heutigen Zeiten definieren? Wie passt dies zu einer religiösen Weltanschauung?
„Ich dachte eine Zeit lang, ohne Witz, Moslem sei man, weil man Schweinefleisch nicht aß – einfach also jemand mit einer speziellen Diät.“
Stanišić beschreibt im essayistischen Stile autobiographische Lebenssituationen. Seine Familie steht während des Balkankriegs im Zuge der ethnischen Säuberungen und wegen der politischen Ansichten seiner Eltern im Fokus der Nationalsozialisten und befindet sich daher in Lebensgefahr, die in einer rettenden Flucht nach Deutschland mündet. Er schreibt aus eigenen Erfahrungen, die er als Heranwachsender machte, über den Zerfall des ehemaligen Vielvölkerstaates Jugoslawien, dem dortigen Aufkommen des Nationalismus und dem Einleben nach der Flucht nach Deutschland, wo er ein normales Leben als Teenager mit seinen Freunden führen möchte.
Als Erwachsener reist Stanišić aufgrund der Demenzerkrankung seiner Großmutter zurück in seine Heimat in Bosnien-Herzegowina. Er betont in einem Interview, dass seine Flucht heutzutage spätestens in Ungarn am Stacheldrahtzaun beendet wäre. Damalige Kriegsflüchtlinge hatten, ebenso wie heute, viele Strapazen zu bewältigen. Er hatte damals Glück im Unglück, die Bundesrepublik Deutschland sicher zu erreichen.
„Jedes Zuhause ist ein Zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“
Dr. Heimat
„Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg. Ich erzähle, wie Dr. Heimat meinen Großvater und mich zum Angeln an den Neckar eingeladen hat. Wie er Angelscheine für uns besorgt hat, wie er Brote geschmiert und sowohl Saft als auch Bier dabeihatte, weil man ja nie weiß. Wie wir Stunden nebeneinander am Neckar standen, ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten.“
Die Freundlichkeit, mit der er, ohne über adäquate Sprachkenntnisse zu verfügen, in Deutschland empfangen worden ist, verwunderte ihn und trug dazu bei, sich hier wohlzufühlen und sein nicht freiwilliges Dasein in Deutschland zunächst erträglich zu machen und sich letztendlich sogar wohlzufühlen. Ein Lehrer erkannte bereits früh sein Schreibtalent und ermutigte ihn, eigene Geschichten zu verfassen. Für jemanden, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, ein großer Erfolg.
Neue und alte Heimaten
„Der Geografielehrer fragte mich, was die Hauptstadt meines Heimatlandes sei und ich sagte ‚Belgrad und Sarajevo und Berlin.“
Stanišić thematisiert in kurzen Kapiteln unchronologisch und ohne Verbitterung seine Vergangenheit, die er der Gegenwart gegenüberstellt. Er informiert, wie er zum Schreiben kam und nimmt auch die politische Situation im Jahr 2018 zum Anlass, darüber zu berichten, da die Herkunft der Menschen scheinbar erwähnenswert ist. Der Herkunftsbegriff ist ein vorrangiges Thema. Der Roman beinhaltet größere Zeitsprünge, die sich zwischen Erinnerung an seine Kindheit bis hin zum Leben nach der Flucht in eine völlig neue Umgebung und Kultur befinden. Allem voran stehen die Geschichten seiner geliebten, aber inzwischen demenzkranken Großmutter, die ihm dabei helfen, seine Herkunft zu durchleuchten. So teilt sie in besonders klaren Momenten ihre Erinnerungen mit ihrer Familie. Er besucht mit seiner Großmutter ihr Heimatdorf Oskoruša, wo seine frühen Wurzeln liegen. Mittlerweile leben nur noch 13 Personen in dem kleinen Bergdorf. Auf dem nahegelegenen Friedhof allerdings ist er der Großteil der Grabsteine mit seinem Familiennamen beschriftet, alles Gräber seiner Vorfahren. Ein weiterer Verwandter sagt zu ihm: „Hier. Du kommst von hier.“ Möglicherweise ist das ein Moment, indem Stanišić seine Herkunft erstmalig deutlich wird und er bereut, in früheren Jahren vor der Erkrankung seiner Großmutter nicht regelmäßiger ihren Geschichten gelauscht zu haben. Damals, als die Erinnerung ihrerseits noch realer schien.
Von Drachen und weiteren Wahlmöglichkeiten
Im letzten Teil wird es unübersichtlich. Unter dem Titel Der Drachenhort begleitet er seine inzwischen verstorbene Großmutter ins Jenseits in die von bosnischen Sagen durchdrungene Welt der Drachen. Dort kann man als LeserIn individuell auswählen, wie die Geschichte endet, da mehrere Handlungsstränge zur Auswahl gestellt werden. Spätestens hier wird aus der als realistisch wahrgenommene Roman sehr phantasiereich und sehr sprunghaft. Da kann es passieren, dass man beim Lesen abbricht, um dem bis zu diesem Zeitpunkt gelesenen Roman keinen negativen Nachhall zu geben.
Für seinen Roman Herkunft wurde Saša Stanišić mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet. Seine Rede bei der Preisverleihung nahm er zum Anlass, sich kritisch zum Literaturnobelpreisträger 2019 Peter Handke zu äußern, der mit seinen Aussagen und Texten zum Balkankonflikt für Unmut sorgte. Herkunft ist ein Begriff, der nicht beeinflussbar ist. Stanišić, der diesen Begriff zu definieren versucht, informiert seine Leser und Leserinnen, was Heimat für ihn bedeutet. Sein scheinbar autobiographischer Roman Herkunft thematisiert neben dem Heimatbegriff und der Herkunft auch enge familiäre Bande, die in der Demenzerkrankung seiner Großmutter gipfeln, die verzweifelt und durchdringend an ihrer Vergangenheit festhält. Herkunft handelt von Menschen, die Tragisch-Dramatisches erlebten und dies mit einer stoischen Ruhe aushielten, froh, überlebt zu haben. Stanišić schreibt nur:
„Es geht in Unterhaltungen nicht unbedingt darum, einander zu verstehen, sondern es miteinander auszuhalten.“
Durch seine Flucht und den daraus resultierenden Lebensweg erzählt Saša Stanišić Geschichten, die sonst nicht entstehen würden.
Herkunft erschien 2019 im Luchterhand Verlag, der Auf der Höhe freundlicherweise Fotos von Saša Stanišić zur Verfügung gestellt hat.
Quellen
Stanišić, Saša: Herkunft, München: Luchterhand Verlag, 2019.
https://www.fr.de/kultur/literatur/deutscher-buchpreis-wird-vergeben-zr-13112778.html (zuletzt aufgerufen am 18.12.2019)