Hagar Peeters – Malva

Am Anfang und am Ende war das Wort. Malva Marina Trinidad del Carmen Reyes, geboren im August des Jahres 1934, blickt zurück auf ihr Leben und erzählt ihre Geschichte – eine Lebensgeschichte, die weniger als ein Jahrzehnt dauern sollte und lange Zeit nahezu unerwähnt blieb. Ihr Vater war der chilenische Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda. Er verließ seine Frau und die mit einem Hydrocephalus (Wasserkopf) geborene Tochter nach zwei Jahren, in seinen Memoiren erwähnte Neruda Malva mit keinem Wort.

von Larissa Plath

[…] es bleibt verwirrend, eine vergessene Verstorbene und zugleich eine allwissende Weiterlebende zu sein.

Die niederländische Lyrikerin und Journalistin Hagar Peeters macht Malva in ihrem gleichnamigen Roman zur ungewöhnlichen Protagonistin: Nach ihrem Tod im Alter von nur acht Jahren verbringt Malva ihr „ewiges Leben“ in einem Zwischenreich, umgeben von anderen verstoßenen Kindern berühmter Autoren-Väter. Mitglieder ihrer „erlesenen Gesellschaft“ sind Lucia Joyce, die (angeblich) schizophrene Tochter von James Joyce, Arthur Millers Sohn Daniel, der am Downsyndrom litt, und der stets mit seiner Blechtrommel auftretende Oskar Matzerath (wobei letzterer als literarische Figur schwerlich in diese Gruppe passen will). Auch Sokrates, Goethe, Roald Dahl und die polnische Dichterin Wisława Szymborska gehören zu Malvas Gesprächspartnern in diesem surreal-literarischen Zwischenreich.

Zuerst war ich wütend, dass mein Vater mich mit keiner Silbe erwähnte […], aber ich habe mich nicht nur damit versöhnt, ich sehe heute sogar die Vorteile davon ein. Indem er mich überhaupt nicht beschrieb, hat er mich auch noch in keiner Weise festgelegt. Ich kann über mich selbst das letzte Wort haben, und damit in Bezug auf seine Schriften ultimativ und definitiv.

Von dort aus lässt Malva ihren Blick nach Lust und Laune zwischen verschiedenen Orten und Zeiten umherwandern. Das Leben ihrer Mutter in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, die kurze Ehe ihrer Eltern, ihre eigene Geburt, der Weggang des Vaters, seine späteren Ehen und Malvas Leben bei einer Pflegefamilie in Holland während des zweiten Weltkriegs – diese vielen Episoden fügt Malva in ihrer revidierten Lebensgeschichte zusammen. Als allwissende Erzählerin kann sie die Gegebenheiten aus ihrer Sicht schildern, sie ist federführend in der Niederschrift ihrer eigenen Biographie. Dazu bedarf es einer weiteren Zwischeninstanz – niemand geringeres als eine Figur namens Hagar hält die von Malva diktierten Worte fest. Hagar, deren Vater Journalist und bei Nerudas Beisetzung in Chile anwesend war, wird zur buchstäblichen Ghostwriterin, zum Sprachrohr Malvas.

Verschiedene Sprachstile scheinen sich hier zu vermischen. Hagar Peeters verleiht Malva einen poetischen Tonfall, sodass man zunächst versucht ist, nicht nur die Roman-Hagar, sondern auch die Erzählstimme mit der Autorin gleichzusetzen. Wie das Spiel mit verschiedenen Ebenen fügt sich die rhythmische, von Metaphern und Alliterationen durchzogene Sprache bei genauem Hinsehen in die von magischem Realismus und Surrealismus geprägte Erzählung ein. Nach dem Tod Nerudas findet Malva den Füller ihres Vaters und nimmt somit seine Verse, seinen Wortschatz, förmlich in sich auf. Die „Macht der Feder“, die sich die Erzählerin auf diese Weise zu eigen macht, lässt ihre bewusst aus der (Literatur-)Geschichte gelöschte Person sichtbar werden.

Alles, was er dichtete, ist nach meinem Tod genauso lebendig wie ich, und das ist die Welt, die er mir posthum schenkt, und ich habe teil an ihr, hier, auf dieser Seite des Papiers, auf dieser Seite der Wirklichkeit.

Macht, ihr damit einhergehender Missbrauch und Schuld sind Themen, die den gesamten Roman durchziehen. Der historische Kontext – spanischer Bürgerkrieg, Faschismus, die Militärdiktatur in Chile unter Pinochet – ist in Malvas individueller Lebensgeschichte allgegenwärtig. Als Teil der nationalsozialistischen Ideologie wurde die Frage nach einer gültigen Norm, nach einer Definition von „Normalität“, auf grausame Weise pervertiert. Vor diesem Hintergrund wirken Worte wie „Ungeheuer“ und „Monster“, mit denen Neruda seine Tochter in Briefen beschrieb, besonders drastisch. Auch die Erzählerin Malva geht in ihrer Selbstbeschreibung nicht zimperlich mit ihrer Behinderung um: „Die Blütezeit der Malve ist kurz. Oft wächst sie am Wegrand, wie Unkraut. Es ist eine bekannte Eigenschaft von Unkraut, dass es unausrottbar ist und darum das ewige Leben hat“.

Malvas drängender Wunsch nach Anerkennung durch ihren Vater ist die treibende Kraft hinter ihrer Erzählung. Die „große“ Geschichte lässt sich im Nachhinein nicht mehr ändern, als ewig im Jenseits lebende Erzählerin kann sie ihre eigene Geschichte aber nach ihrer Fasson wieder und wieder durchspielen. Was hindert sie also daran, sich von ihrem Vater, dem großen Pablo Neruda, als seine „wunderbare Tochter Malva Marina“ vorstellen zu lassen?

Die Autorin vereint poetische Erzählkunst, (Roman-)Biographie und Literaturgeschichte zu einem komplexen Ganzen. Es braucht Zeit, bis man sich auf die mäandernde Sprache einlassen kann, deren Bedeutung nicht vom ersten Moment an erkennbar ist, im Laufe der Lektüre aber an eigenwilliger Stärke gewinnt. Mit Malva gelingt Hagar Peeters eine nachhallende, schwer fassbare Erzählung, die den Leser betroffen zurücklässt.

 

Der Wallstein Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.