von Larissa Plath
„Es ist besser, sie nicht anzusehen.“ Mit „sie“ sind die Opfer eines mordenden Mutter-Tochter-Gespanns gemeint, welches sein abgeschiedenes Hotel nutzt, um wohlhabende männliche Gäste ins Jenseits zu befördern und sich auf diese Weise zu bereichern. Was die namenlose Mutter (Julia Wolff) ihrer Tochter Martha (Lena Vogt) gegenüber nüchtern feststellt, ist nur eine von vielen, in ihrer teilnahmslosen Kälte so erschreckenden Aussagen, die im Laufe des Stücks folgen sollen. Das grausame Handeln dient der eigenen Rettung in eine vermeintlich bessere Zukunft, aber am Ende scheitern beide an ihrem Unvermögen, sich der Realität zu stellen.
Die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz bildet den Fixpunkt vieler literarischer und dramatischer Werke Albert Camus’, so auch in seinem 1944 uraufgeführten und wenig bekannten Stück Das Missverständnis, mit dem das Schauspiel Wuppertal die neue Saison in der kleinen Spielstätte am Engelsgarten einläutet. In seinem Aufbau folgt Camus’ Werk der antiken Tragödie, birgt daneben aber noch andere (Genre-)Dimensionen wie die des Kriminalstücks oder Psychothrillers. Diese blitzen in der Wuppertaler Inszenierung von Martin Kindervater immer wieder auf – äußern sich unter anderem in dem extremen Abhängigkeitsverhältnis von Mutter und Tochter – verschieben aber nie den eigentlichen Fokus. Im Theater am Engelsgarten oszilliert Camus’ existenzialistisches Moralstück zwischen packendem psychologischen Spiel, schmerzlichen Momenten, die in ihrer Überzeichnung fast schon komisch wirken, und einem jederzeit spürbaren Gefühl der Ergebenheit gegenüber dem eigenen Schicksal.
„Töten macht schrecklich müde.“ (Mutter)
Am Anfang der Tragödie steht die Heimkehr des verlorenen Sohnes: Nach zwanzig Jahren in der Fremde stattet Jan (Konstantin Rickert) seiner Mutter und seiner Schwester Martha einen Besuch ab, quartiert sich unerkannt und unter einem anderen Namen im Hotel ein. Bei seiner Frau Maria stößt er mit diesem Verhalten auf Unverständnis: „Ein Wort hätte genügt“, bemerkt sie, um aus einem Fremden den eigenen Sohn und Bruder werden zu lassen. Genau da liegt das fatale Versäumnis Jans, welches den Moment der Erkenntnis verhindert. Er schweigt, betritt eine Welt, die ihm fremd und gleichgültig gegenüber steht und wird in seiner Rolle als beliebiger Hotelgast von der Mutter und Martha als nächstes gewinnbringendes Mordopfer auserkoren. An der Rezeption nimmt Martha die nötigen Personalien auf, rasch wird ein Polaroid geknipst, das Jan zur Nummer elf in der Fotogalerie der „Ehemaligen“ macht.
Noch am selben Abend soll der Mord geschehen. Martha ist die treibende Kraft; ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben, an einem Ort „in der Sonne“, fern von der gewohnten, lähmenden Tristesse, lässt sie derart kompromisslos handeln. „Heute Abend oder gar nicht“, verkündet sie und bereitet eine Willkommens-/Abschiedsfeier vor, die zum absurden Spektakel wird: Bunte Girlanden, Luftschlangen und Partyhüte gehören ebenso dazu wie die skurrile Darbietung eines japanischen Karaokeliedes. Unterbrochen wird die Feier von einem weiteren Gast (Alexander Peiler), der, nichts Böses ahnend, nach einem Zimmer fragt und durch seine bloße Anwesenheit unwissentlich den Plan durchkreuzt.

Kurz darauf, Schauplatzwechsel: Die Bühne dreht sich und zeigt Jan in einem kleinen Hotelzimmer, wo Martha ihn nach seinem Leben in fremden Ländern fragt, begierig seiner Darstellung von Sonne, Meer und Strand lauscht. Für einen kurzen Moment weicht Marthas Kälte einem Anflug von Vertrautheit, aber die alles bestimmende Bitterkeit wiegt zu schwer. Lena Vogts starke Darstellung gewinnt besonders im Zusammenspiel mit Julia Wolff an Tiefe: Der pathologisch-symbiotischen Verbindung von Mutter und Tochter kann sich keine der beiden Figuren entziehen.
Unterstützt wird die beklemmende Atmosphäre durch das gelungene Bühnenbild von Anne Manss. Auf der Drehbühne platziert, wird das Hotel durch eine Konstruktion mit Schrägdach angedeutet, die auf kleinstem Raum Platz für die Rezeption, einen Aufenthaltsbereich und ein Zimmer auf der Rückseite bietet. Auffällig ist, dass einige Requisiten aus der von Kindervater und Manss in der vergangenen Spielzeit inszenierten Glasmenagerie ihren Platz auf der Missverständnis-Bühne finden. Die Uraufführung von Tennessee Williams’ „Spiel der Erinnerungen“, so der Untertitel, fand im gleichen Jahr statt wie die von Camus’ Existenzialismus-Stück, in beiden Werken tritt eine Figurenkonstellation aus Mutter, Sohn und Tochter auf (in der Wuppertaler Inszenierung der Glasmenagerie ebenfalls verkörpert von Wolff, Rickert und Vogt). Durch die wiederkehrenden Elemente öffnet sich ein Spielraum für Assoziationen, wenngleich sich der Grundtenor der beiden Stücke unterscheidet: Bei Williams scheitern die Figuren am Verharren in der Vergangenheit, bei Camus an der Unfähigkeit, den Kern ihrer (sinnlosen) Existenz anzuerkennen. Geprägt von den Eindrücken des Zweiten Weltkriegs ruft Camus zur Aufrichtigkeit und Menschlichkeit auf, zu einer moralischen Stärke, die in Jans Fall das „Missverständnis“ hätte verhindern können.
„Das Leben ist grausamer als wir.“ (Martha)
So aber folgen Mutter und Tochter ihrem Plan: Nachdem das übliche Prozedere in Form eines Schlafmittels und dem anschließenden Ertränken im Fluss erledigt ist, rennt Martha wie irre und scheinbar befreit im Kreis, beflügelt von dem Glauben, dass „morgen alles besser wird“. Ein Blick in Jans Reisepass und die nun unumgängliche Erkenntnis genügen jedoch, um die Verbindung zwischen Mutter und Tochter zu kappen und Martha ihre Aussicht auf ein neues Leben zu nehmen. „Ich lebe in dem Augenblick, da ich nicht ertragen kann, weiterzuleben“, erkennt die Mutter. Bei Camus stellt sich die Sinnfrage in dem Moment, wenn die gewohnte Routine durchbrochen wird und eine Entscheidung gefordert ist: aufgeben oder weitermachen. Im Missverständnis fällt die Antwort von Martha und ihrer Mutter eindeutig aus. Besonders dort, wo sie den Kern dieses existenzialistischen Konfliktes trifft, überzeugt die Wuppertaler Inszenierung. Bei Kindervater ist die Handlung – trotz einiger aktueller Bezüge im Programmheft – an keinen bestimmten örtlichen oder zeitlichen Kontext gebunden; der Fokus liegt auf den Figuren, ihr (Nicht-)Handeln spiegelt exemplarisch und ganz im Sinne von Camus’ Philosophie eine zutiefst menschliche Grundfrage wider, die zu allen Zeiten gültig ist.
Das Missverständnis
„Le Malentendu“
von Albert Camus
aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Termine im Theater am Engelsgarten:
Do. 17. Oktober 2019 18:00 Uhr
So. 20. Oktober 2019 18:00 Uhr
So. 03. November 2019 18:00 Uhr
Sa. 23. November 2019 19:30 Uhr
Fr. 27. Dezember 2019 19:30 Uhr
So. 26. Januar 2020 18:00 Uhr
Fr. 07. Februar 2020 19:30 Uhr
Fr. 28. Februar 2020 19:30 Uhr
Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!
Inszenierung: Martin Kindervater
Bühne & Kostüme: Anne Manss
Dramaturgie: Peter Wallgram
Regieassistenz: Barbara Büchmann
Inspizienz: Gesa Hocke
Regiehospitanz: Ida Schneider
Besetzung:
Lena Vogt: Martha
Julia Wolff: die Mutter
Konstantin Rickert: Jan
Hans Richter: der alte Knecht
Ensemble des Schauspiel Wuppertal: Maria
Alexander Peiler: Gastauftritt