Georg Klein entführt den Leser in seinem Roman Miakro in die mikrokosmische Welt des Büroleiters Nettler, der dort, Tag für Tag, Pult an Pult, seinen Dienst im Mittleren Büro verrichtet, zu den Mahlzeiten den Nährflur betritt und nachts in seiner Schlafkoje ruht. Was zunächst nach Alltagstrott und festen Strukturen einer in sich geschlossenen Welt klingt, wird jedoch durch den plötzlich auftretenden Binnenwind aufgebrochen, von dem Nettler jedes Mal geweckt wird. Die unruhigen Nächte verleiten ihn dazu, sein Leben zu reflektieren, was zur Folge hat, dass sich die Unruhe auf seine Gemütslage überträgt und er dem alltäglichen Trott entfliehen möchte.
von Laura Wolf
Aber unabhängig davon, wie prächtig in den zurückliegenden Nächten eine Fülle bekannter Bilder aufgeflammt war, wie leuchtend sich nun erneut Bild über Bild schob, der frische Binnenwind, der Nettler hierbei ins Gesicht blies, duldete kein Verharren, das zur Besinnung eingeladen hätte, sondern nötigte das Auferstandene zur Eile.
Beim Fluchtversuch vor der Monotonie wird Nettler von den drei Arbeitskollegen Guler, Schiller und Axler begleitet. Der ihnen bisher als sicher und geordnet erschienene Lebensraum entpuppt sich zunehmend als Labyrinth, in welchem sie fortan den richtigen Weg suchen. Dabei entdecken sie vielerlei für den Leser alltägliche Gegenstände, wie beispielsweise einen Fahrstuhl, der ihnen in dieser Welt jedoch fremd erscheint.
Jetzt heißt es abwarten. Ausgerechnet Axler, den ich fünf Binnenjahre lang nur gehorchen, folgen, wie eine gutmütige Muskelmaschine mittun gesehen habe, hat eben seinen Daumen auf den roten Knopf gelegt und ihn über einen hell klackernden Widerstand in die Wand gepresst. Gottvertrauen, Wandvertrauen. Vermutlich kriecht inwändig ein elektrischer Strom in verborgenen Schleifen, auf rückläufigen Umwegen durch das Faserwerk der haarfeinen, in den champignonfarbenen Wandspeck gebetteten Verdrahtung.
Mit jeder weiteren Seite vermag der Leser dem Ende des Labyrinths näher zu kommen. Die Umgebung von Nettler und seinen Begleitern erweist sich als Mikrokosmos in einem Makrokosmos. Von dort aus beobachten die Naturkontrollagentin Xazy sowie Hauptmann Blank das Geschehen im Innenleben.
Bereits einen Tag bevor Nettmann sich wie befohlen in Blanks Hundertschaft meldete, war an Hilfserkunder Guhl der Auftrag ergangen, sich um den Degradierten zu kümmern. Mit der gebotenen Vorsicht sollte er sich dranmachen, eine kameradschaftliche Beziehung zu Nettmann aufzubauen. Sein Alter und sein Humor würden ihm dabei helfen. (…) Und seit sie selbst bei Blanks Hundertschaft weilte, hatte Xazy keinen Hinweis darauf entdeckt, dass sich ihr Mann vor seinem Eintritt in das Objekt durch irgendeine Unvorsichtigkeit verraten haben könnte. Als der Stoßtrupp zusammengestellt und jedem der fünf von Hauptmann Blank unter vier Augen freigestellt worden war, nein zu sagen, hatte Guhl sich eigenständig für eine weitere Beobachtung Nettmanns entschieden. Acht Tage war der Dicke mittlerweile im Objekt verschwunden.
Die Einführung dieser zweiten Welt-Ebene lässt das Umfeld in Miakro kurzzeitig klarer erscheinen, doch je weiter die Umherirrenden durch den Mikrokosmos dringen und dessen Strukturen aufbrechen, desto mehr muss der Leser seine Kontrolle über sein Verständnis des Miakro aufgeben, bis er sich in der Erzählung verliert und im Irrgarten der verschiedenen Zeitstrukturen sowie den stetig wechselnden Erzählperspektiven unterzugehen droht.
Gleich werden die vier Büroflüchtlinge einmal im Kreis herumgegangen sein. Stünde die Sonne an einem blanken Himmel, hätten sie bereits begriffen, dass sie wieder dort anlangen müssen, wo sie auf diese Umlaufbahn geraten sind. Aber das Taggestirn hält sich heute hinter besonders dichtem Dunst verborgen, und die Achtsamkeit der vier pendelt mit jedem zweiten oder dritten Schritt zwischen der harten Verglasung, die sie vom freien Gelände separiert, und dem, was sie weiterhin die Wand zu nennen haben.
Und wenn man denkt, die Anordnung verstanden und Ordnung in das Chaos des Romans gebracht zu haben, ergeben sich wieder neue Aspekte, die dem Leser jegliche Erkenntnis über die dargestellten Welten entziehen, sodass Kleins Spiel mit den Kompositionen misslingt und selbst das Ende der Flucht und die Hoffnung auf einen Ausweg für Nettler & Co in den Hintergrund gerückt werden.
Er sieht: Die Treppe, von deren Ende er gestürzt ist, ist nicht das einzige derartige Gebilde, welches die bleiche Wand in den Hohlzylinder hinausgetrieben hat. Rundum ragen bestimmt ein Dutzend weiterer Stummel Richtung Mitte, ein jeder allerdings kaum mehr als kümmerliche zehn, zwölf schiefe Stufen weit. Der einzige Auswuchs, der es von ganz unten, aus dem undurchschaubar Trüben kommend, fast bis an ihren Ausguck geschafft hat, knickt auf seinem Weg nach oben mehrfach ab, als ginge es ihm darum, ein spiraliges Aufwärts, ein pflanzenhaftes Winden ins Rechtwinklige zu übertragen.
Was bleibt ist der Wunsch den Roman verstehen und die Zusammenhänge richtig deuten zu können. Der Leser sucht jedoch vergebens nach einer Spur aus dem Text, dessen scheinbare Ordnung ihn gefangen hält und nicht mehr loszulassen vermag. Wer dennoch in Kleins mystische Miakro-Kosmen eintauchen möchte, dem sind geheimnisumwobene Stunden garantiert. Vielleicht findet der ein oder andere seinen eigenen Weg aus dem Dunkel des Miakro.