Die ehemalige Schauspielerin und Regisseurin Adriana aus Berlin landet mit ihrer eigenen Operninszenierung in der Provinz. Bei den Proben stellt eine zarte, ältere Dame, Susanne oder auch Sissele genannt, Adrianas ohnehin lautes und vielseitiges Leben plötzlich ganz schön auf den Kopf.
von Marajka Parplies
Adriana kommt nicht zur Ruhe: Während der von ihr inszenierten Mozartoper „Die Entführung aus dem Serail“, meist vor frustrierend halbleeren Rängen und fern von ihrer Familie, übernimmt die Souffleuse Sissele die Hauptrolle und wirbelt ihren zuvor von Proben bestimmten Alltag durcheinander.
„Draußen scheint die Sonne. Man könnte sich wunderbar unters Ozonloch setzen und sich einen gepflegten Hautkrebs zulegen. Stattdessen hocken wir im Halbdunkel dieser ungelüfteten Stube und befinden uns auf der Zielgeraden zu einer schönen Depression.“
Während Adriana versucht, der wechsellaunigen internationalen Besetzung und dem Stück Herr zu werden, fordert Sissele einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit. Sie möchte nach vielen Jahren ihre in der Shoa verschollene jüdische Familie finden und benötigt dabei Adrianas Hilfe. Sie sieht in den bis dahin veröffentlichten Büchern und Adrianas jüdischen Herkunft vermeintlich einen Bezug zu Sisseles eigener Lebensgeschichte.
„Bitte, Susanne“, hake ich nach, „wieso ich? „Ich habe dein Buch gelesen“, nuschelt sie in Richtung Wand, sodass ich sie nur schwer verstehen kann, „das, in dem du über deine Familie schreibst. Du bist mutig und schonungslos vorgegangen, du hast gefragt, recherchiert und bist herumgefahren. Das will ich auch. Aber mit dir.“
Zu Beginn ist Adriana noch genervt von Sissele, die ihr vielseitiges Charakterrepertoire von überspannt, weinerlich und kauzig bis hin zu liebenswert und freundlich zeigt. Doch je mehr Sissele sich ihr gegenüber öffnet und über ihre Vergangenheit spricht, desto interessierter und hilfsbereiter wird sie. Sisseles Herkunft ist in ihren Augen undurchschaubar, doch die Souffleuse erzählt ihre Geschichte mit viel Herz. Nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel geboren, verliert sie früh ihre Mutter. Ihr Vater, als Häftling von Nazis zum Sonderkommando abkommandiert, nimmt sie mit nach Deutschland in ein Displaced Persons-Lager. Er fühlt sich schon bald mit ihr überfordert. Sie kommt erst in verschiedenen Pflegefamilien und schließlich im Kloster unter. Sissele fühlt ständig heimatlos und ohne feste Bezugspersonen einsam. So gehen die Jahre ins Land. Die Sehnsucht, ihre Wurzeln zu ergründen, wird immer größer. Nach dem Tod ihres Mannes nimmt die ehemalige Flugbegleiterin eine Stelle bei der Oper an und landet schließlich bei Adrianas Inszenierung.
Gemeinsam begeben sich die beiden Frauen auf die Suche. Ihr Weg führt sie quer durch die Archive Deutschlands, die Slowakei bis hin nach Österreich in ehemalige Konzentrationslager.
Adriana Altaras’ lockerer Schreibstil, gepaart mit viel Humor, Eloquenz und philosophisch anmutenden Erzählstrukturen in diesem scheinbar halb-autobiografischen Roman nimmt nichts von der Ersthaftigkeit der sensiblen Thematik, die sich um die jüdische Verfolgung und die tragischen Konsequenzen drehen, auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus.
Schon 2012 erzählte die in Zagreb geborene Partisanentochter Adriana Altaras in ihrem Debütroman Titos Brille von den Irrungen und Wirrungen, die ihre Familie im und nach dem Holocoust erlebte. Die ehemalige Schauspielerin, die auch im wahren Leben Opern inszeniert, reflektiert ihre eigene Lebensgeschichte mit einer enormen Portion tragischem Humor. Es ist erstaunlich, wie sehr sie ihre Leser für sich einnehmen kann und über diese schwierige und verheerende Zeit lesen lässt, ohne ein dumpfes Gefühl zu hinterlassen.
Der Verlag Kiepenheuer& Witsch hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.