In der Hitze des Gefechts: Das Wuppertaler Schauspiel inszeniert Kroetz’ „Der Drang“

Aus dem ehelichen Kräftemessen zwischen Otto (Stefan Walz) und Hilde (Maresa Lühle) halten sich Fritz (Konstantin Rickert) und Mitzi (Philippine Pachl) lieber raus. Foto: Uwe Schinkel

von Victoria Steffen und Larissa Plath

Wie ein Pflanzensetzling ragt ein Männerkopf aus dem Bühnenboden – mehr ist auf den ersten Blick in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Aus einem viereckigen Loch schält sich der dazugehörige Körper, nur um im darauffolgenden Moment kopfüber im nächsten Loch zu verschwinden. Aus diesem zwängt sich wiederum ein weiblicher Oberkörper. Otto (Stefan Walz) legt sich ins Zeug, doch Hildes (Maresa Lühle) anfängliches Stöhnen schlägt schnell in Gelächter um: „Jetzt lass gut sein!“. Der nächste Tag sei eh schon anstrengend genug, da spare man sich lieber die Kräfte. Ein wohl allzu üblicher Vorgang im Hause Holdenrieder. Wenn’s nach Otto ginge, würde man den wohlverdienten Feierabend in trauter Zweisamkeit deutlich aktiver gestalten. Bitterböse und sozialkritisch: In den Werken von Franz Xaver Kroetz liegen Komik und Tragik eng beieinander. Mit Der Drang bringt das Wuppertaler Schauspiel nun eines der späteren Stücke des bayerischen Dramatikers auf die Bühne.

Die Arbeit in der gemeinsamen Friedhofsgärtnerei lässt kaum Zeit für anderes, selten kommen Otto und Hilde aus ihrem gewohnten Umfeld heraus. Im Theater am Engelsgarten spiegelt das schlicht gehaltene Bühnenbild die in sich geschlossene Welt der beiden wider: Zu sehen sind die Umrisse eines Hauses, vier Latten, die zu einem Spitzdach zusammengenagelt sind und eine halbtransparente Folie einfassen. Erde bedeckt den Boden bis auf vier Aussparungen, über welche die Schauspieler mal vorwärts, mal rückwärts die Bühne betreten oder verlassen und dabei nicht selten für komische Momente sorgen.

Aus dem Lot gebracht wird die spießbürgerliche Ordnung, als mit Hildes jüngerem Bruder Fritz (Konstantin Rickert) ein vermeintlicher Unruhestifter auf den Plan tritt. Pillen „gegen seine Männlichkeit“ muss der just aus dem Gefängnis entlassene Exhibitionist nehmen, könnte doch sein Drang zur Gefahr für die Allgemeinheit werden. Tatsächlich entpuppt sich Fritz inmitten der immer stärker aufkeimenden Triebe noch als der Ausgeglichenste. Durch sein unbeholfenes Auftreten bleibt er selbst passiv, erhitzt jedoch die Gemüter der anderen. Da ist zum Beispiel die Angestellte Mitzi (Philippine Pachl), deren Blut Fritz ordentlich in Wallung bringt: Hildes Bruder stellt für sie eine willkommene Abwechslung dar und beflügelt ihre sexuelle Phantasie. Schamlos schmeißt sie sich an ihn ran, sodass dem Bedrängten nichts anderes übrig bleibt, als in seinem Loch zu verschwinden – nebenbei bemerkt sein bewährter Umgang mit brenzligen Situationen. Obwohl das Ringen der beiden beim Publikum Lacher auslöst, sind Szenen wie diese nur im ersten Moment komisch. Denn wenn Mitzi nach dem langen Gefecht einsam auf dem Boden liegend zurückbleibt, das Kleid hochreißt, ihren Arm nach Fritz ausstreckt und verzweifelt nach Liebe ruft, zeigt sich die eigentliche Tragik des Stücks. Mitzis sexueller Drang erweist sich als Wunsch nach Zuneigung, der aber genauso unerfüllt bleibt wie Ottos triebhaftes Verlangen.

Angestachelt durch den stets potenten Jungspund steigt bei Otto der Druck. In seiner Frustration und zudem erzürnt über Fritz’ vermeintlichen Freifahrtschein fordert er ein, was ihm seiner Auffassung nach als ‚wahrer‘ Mann zusteht. Nachdem Hilde ihn abblitzen lässt, kommt Mitzi in den vollen Genuss seiner Männlichkeit. Der Reinfall mit Fritz scheint ob der unverhofften Leidenschaft schnell vergessen: „Herr Holdenrieder, jez’ ham mia aber die Sau raus’ lassn.“ Doch auch das Verhältnis zu Otto befriedigt nicht ihr Bedürfnis nach Zuneigung. Ihre Hoffnung, dass aus der körperlichen eine emotionale Beziehung entsteht, wird nicht erfüllt. Otto hingegen ist zufrieden, er mag seine erstarkte Männlichkeit nicht mehr hergeben. Hilde gönnt der jüngeren Mitzi den Triumph jedoch nicht: Wenn schon ein Hintern herhalten muss, dann doch wohl der ihre. Die Rückgewinnung des Ehemanns verfolgt die resolute Gärtnerin zum Leidwesen ihrer Konkurrentin mit allen Mitteln.

In den 1970er Jahren gehörten die Stücke von Franz Xaver Kroetz zu den meistgespielten Werken der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Der Drang wurde 1994 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und bringt seine Auffassung des neuen Volkstheaters zum Ausdruck. In der Unfähigkeit der Figuren, miteinander zu kommunizieren und sich mit der festgefahrenen Situation auseinanderzusetzen, offenbart sich der eigentliche Kern des Stücks. Denn bei all dem Drang, den sie verspüren, führt ihr kurzzeitiges Ausbrechen aus der gewohnten Ordnung zu keiner dauerhaften Veränderung: Otto und Hilde arrangieren sich mit ihrem eintönigen Eheleben, Mitzi bleibt allein und Fritz tritt den Rückzug an. Resignierend erklärt der Hausherr: „Die Ordnung kehrt wieder ein!“ Frei von jeglicher Überheblichkeit werden Kroetz’ Figuren in ihren emotionalen Zuständen ernst genommen, die Darstellung kippt nie ins Lächerliche. So zeigt die Wuppertaler Inszenierung, dass das Stück mehr leisten kann, als mit flachen Gags und Derbheit zu punkten. Dem Ensemble gelingt es, die Balance zwischen auflockernden Elementen und der präzisen Darstellung menschlicher Bedürfnisse zu halten.

Wer selbst Zeuge der hitzigen Beziehungsgefechte werden möchte, hat noch des Öfteren die Gelegenheit dazu: Die Pforten der Gärtnerei Holdenrieder öffnen sich das nächste Mal am kommenden Samstag!

 

Der Drang
Volksstück in drei Akten
von Franz Xaver Kroetz

Termine im Theater am Engelsgarten:

Sa. 20. April 2019 19:30 Uhr
Fr. 26. April 2019 19:30 Uhr
Sa. 04. Mai 2019 19:30 Uhr
So. 05. Mai 2019 16:00 Uhr
Fr. 07. Juni 2019 19:30 Uhr

Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!

Inszenierung: Peter Wallgram
Mitarbeit Regie/Assistenz: Barbara Büchmann
Bühne & Kostüme: Sandra Linde
Choreinstudierung: Markus Baisch
Dramaturgie: Barbara Noth
Inspizienz: Charlotte Bischoff

Besetzung:

Maresa Lühle: Hilde
Stefan Walz: Otto
Philippine Pachl: Mitzi
Konstantin Rickert: Fritz