Man sagt, die besten Geschichten schreibe das Leben. Daher präsentieren wir diese Woche eine besondere Auswahl an (auto-)biografischen Büchern. Der Clou dabei? Der Übergang zur Fiktion ist fließend! Statt sich den starren Regeln des Genres zu unterwerfen, verfassten diese Autorinnen und Autoren anspruchsvolle, spannende, witzige und ergreifende Kunstwerke, die zwar auf einem (oder mehreren) Leben basieren, aber es eben auch wagen, darüber hinaus zu gehen.
Anthoula empfiehlt:
Felicitas Hoppe – Hoppe
In dem gleichnamigen Roman Hoppe schreibt Felicitas Hoppe in 326 Seiten ihre Traumbiografie. Die Autorin vermischt in ihrem Werk faktisch zutreffende biografische mit unzutreffenden Angaben. Sie entzieht sich der Realität und erzählt von ihrer Kindheit als Einzelkind in Kanada, ihrer Leidenschaft zum Eishockeyspielen, der Auswanderung nach Australien auf einem Schiff mit ihrem Vater sowie ihrem späteren Leben in Amerika in den Städten Las Vegas und New York. Im Roman gibt es viele Anzeichen, die mit der realen Figur Felicitas Hoppe zusammenhängen, wobei sie viele fiktive Elemente hinzufügt und die Sage um den Rattenfänger von Hameln, ihrer eigentlichen Heimatstadt, in mehreren Textpassagen besonders hervorhebt. Hoppes Autofiktion bzw. fiktionale Biografie ist ein anspruchsvolles Buch mit einem besonderen Schreibstil und mehreren Perspektivwechseln, welches die Leser in eine Welt aus Fiktion und Wirklichkeit eintauchen lässt.
Julia empfiehlt:
Die Gruppe Ja, Panik – Futur II
Zu ihrem zehnjährigen Bandjubiläum beschloss die in Berlin ansässige österreichische Gruppe Ja, Panik, sich in einem einmonatigen Experiment gegenseitig ihre eigene Geschichte zu erzählen und daraus ein Buch zu machen: Schlagzeuger Sebastian Janata und Bassist Stefan Pabst werden in die Bandarchive in Wien und Berlin entsandt, Keyboarderin Laura Landergott interviewt Weggefährten der Band und Frontsänger Andreas Spechtl überwacht und kommentiert die Ergebnisse aus einem fernsüdlichen Land, das nicht näher benannt wird. Der E-Mail-Wechsel zwischen den Bandmitgliedern führt querbeet durch verschiedene Etappen ihrer gemeinsamen Karriere, bis sich Janata im Lauf des Buchs anstatt der Recherche vermehrt nächtlichen Eskapaden widmet, Pabst sich in den Untiefen des Archivs verliert bis seine Sinne ihm Streiche spielen und Spechtl über die Begegnung mit einem Wagner pfeifenden Vogel den Verstand zu verlieren droht… Das 2016 im Verbrecher Verlag erschienene Futur II ist ein wunderbar wirres Buch, das als Bandbiografie beginnt und als surreale Erzählung endet – melancholisch, schräg und spannend, nicht nur für Ja, Panik-Fans.
Julia empfiehlt:
Hanns-Josef Ortheil – Die Erfindung des Lebens
Johannes ist anders als die anderen Kinder: Die ersten sieben Jahre seines Lebens ist er – wie seine innig geliebte Mutter – stumm. Erst durch die Musik nähert er sich auch der Sprache und verfolgt schließlich in Rom seinen Traum, Pianist zu werden, bis ein Schicksalsschlag seine Pläne durchkreuzt. Neue Lebensfreude findet der inzwischen erwachsene Johannes im Schreiben und – wenn auch zunächst widerwillig – im Klavierunterricht für die Tochter seiner Nachbarin.
So ungewöhnlich und tragisch die Geschichte des Protagonisten anmutet, zeichnet sie doch in groben Zügen das Leben des Autors Hanns-Josef Ortheil nach, der in zahlreiche seiner Romane biografische Elemente eingewoben hat. Wer nicht um diese Bezüge weiß, dem präsentiert sich Die Erfindung des Lebens (2009) jedoch schlicht als ein poetischer Roman, eine Liebeserklärung an die Musik, an die Sprache und an das Leben.
Larissa empfiehlt:
Virginia Woolf – Orlando. Eine Biographie
Eine Hauptfigur, die nach einem mehrtägigen Schlaf vom Mann zur Frau wird und, angefangen beim Hofe Königin Elisabeths I. bis hin zum Jahr 1928, mehrere Jahrhunderte englischer Geschichte selbst miterlebt – all dies klingt nicht gerade nach typisch biografischem Stoff, entfaltet sich aber in Virginia Woolfs Roman Orlando zu einer wunderbar ironischen und komplexen Genre-Spielerei.
Versehen mit dem Untertitel „eine Biographie“ stellt der 1928 erschienene Roman sämtliche zu erwartende Charakteristika einer Lebensdarstellung auf den Kopf, verweist auf zahlreiche andere literarische Werke und reflektiert den eigenen Entstehungshintergrund. Als Inspiration für ihre titelgebende Hauptfigur diente Woolf’s Freundin, die Schriftstellerin Vita Sackville-West. In dieser Hinsicht mag sich zwar eine biografische Lesart anbieten, doch wird diese dem Roman bei Weitem nicht gerecht: Orlando besticht vor allem durch Woolfs humorvolle Neudefinition des Genres, die ihre zuvor in essayistischer Form dargelegten theoretischen Überlegungen zur Biografie kunstvoll weiterführt.
Larissa empfiehlt:
Julian Barnes – Flaubert’s Papagei
Geoffrey Braithwaites Passion gilt dem Leben und Werk des großen französischen Romanciers Gustave Flaubert. Er begibt sich auf eine biografische Spurensuche, in deren Mittelpunkt ein ausgestopfter Papagei steht, der auf Flauberts Schreibtisch gestanden und den Schriftsteller inspiriert haben soll. Ein durchaus skurriles Unterfangen, denn nach und nach tauchen immer mehr Papageien auf, deren Anspruch auf Originalität erhoben wird. Braithwaite muss erkennen, dass sein Vorhaben einer schlüssigen Flaubert-Biografie kein Leichtes ist und erfährt dabei viel über seinen eigenen Umgang mit der Vergangenheit.
Mit seinem im englischen Original bereits 1984 erschienenen und für den Booker Prize nominierten Roman Flaubert’s Papagei gilt Julian Barnes als ein Pionier der metafiktionalen Romanbiografie: Eine selbstreflexive, spielerische Form, die das Schreiben einer Lebensdarstellung zum Thema macht und so die Möglichkeit biografischer Eindeutigkeit oder historischer Wahrheit unterläuft. Ganz im Sinne der postmodernen Manier präsentiert Barnes Roman ein Mosaik aus Erzählung, Zitaten und verschiedenen Chroniken zu Flauberts Leben. Für Leser die sich auf diese amüsante und herausfordernde Art der Ideensammlung einlassen, hält die Lektüre mehr bereit als die Antwort, welcher denn nun der richtige Papagei sein mag …
Laura empfiehlt:
Thomas Glavinic – Das bin doch ich
Thomas Glavinic ist ein österreichischer Schriftsteller. Er sucht einen Verlag für sein neustes Buch, tauscht sich mit seiner Agentin aus und reist zu Lesungen von Kolleginnen und Kollegen. Nebenbei kümmert er sich um seine kleine Familie und trachtet dort nach Zuflucht vom meist beschwerlichen Literaturbetrieb. Denn der Job eines Autors, der nach leichter Arbeit klingt, wird hier unverhohlen dargestellt, zumal der Protagonist den Durchbruch seines Freundes, Daniel Kehlmann, und seinem mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Werk Die Vermessung der Welt miterleben muss, während er selbst nur davon träumen kann eine ebenso große Anerkennung zu erfahren.
Thomas Glavinic entführt den Leser in das exzentrische Jahr eines erfolgssuchenden Autors. Mit Humor und Zynismus gelingt Glavinic ein verwirrendes sowie spannendes autofiktionales Werk, bei dem man sich an manchen Stellen zurecht fragt: Ist er es wirklich?