Paulo Coelho – Hippie

Im Sommer des Jahres 1970 steigt in Amsterdam eine Gruppe in den Magic Bus, ihr Ziel: Kathmandu. Es sind die unterschiedlichsten Menschen dabei, viele von ihnen sogenannte ‚Hippies‘. Verschiedene Umstände haben sie zu dieser Reise geführt. Der brasilianische Autor Paulo Coelho erzählt ihre Geschichten – und einen Teil seiner eigenen gleich mit.

IMG_7727von Lara Ehlis

Im September 1970 waren Flugtickets sehr teuer, was nur einer Elite erlaubte zu reisen. Zu dieser Elite gehörte natürlich nicht die überwältigende Mehrzahl aller Jugendlichen, die in den herkömmlichen Kommunikationsmitteln nur auf ihr Äußeres reduziert wurden: lange Haare, bunte Kleidung, ungewaschen – eine glatte Lüge, aber diejenigen, die Zeitung lasen, kannten ja keine dieser Jugendlichen, und die Erwachsenen glaubten jeder angeblichen Nachricht, die imstande war, jene herabzuwürdigen, die sie für eine „Bedrohung der Gesellschaft und der guten Sitten“ hielten.

Die Reise des Protagonisten Paulo beginnt, als er auf die schöne Niederländerin Karla trifft. Von einer Wahrsagerin hat sie vorausgesagt bekommen, dass sie in Kürze auf einen Weggefährten treffen würde. Sie erkennt diesen in dem langhaarigen, jungen Mann, der eine Jacke mit auffällig wenigen Aufnähern trägt. Da er schüchtern wirkt, scheut Karla sich zunächst, ihn anzusprechen. Er wiederum interpretiert ihren Gesichtsausdruck als abwesend und möchte sie nicht stören. So sitzen sie eine halbe Stunde lang schweigend nebeneinander, bis Paulo seinen Mut zusammennimmt und die Stille bricht.

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten, die die ungleichen Charaktere auch für den Rest des Romans begleiten sollen, nehmen sie gemeinsam die Expedition im Magic Bus mit Ziel Kathmandu auf sich. Die Lebensgeschichten von Karla und Paulo werden episodenweise erzählt. Um sie herum ranken sich die Biographien der anderen Mitreisenden, in denen immer auch die Beweggründe für die Fahrt nach Kathmandu erklärt werden – die Gründe dafür, warum sie alle am selben Ort, im selben Bus gelandet sind.

Genauso, wie es im Leben einer Person verschiedene Stationen gibt, macht auch der Magic Bus mehrmals Halt. In den österreichischen Bergen genießen die Reisenden das erste Mal seit Tagen ein Bad im eiskalten Gebirgsbach. In einem Dorf kurz vor der Grenze zu Jugoslawien werden sie gewaltsam aus einer Kneipe geworfen, weil sie das Stadtbild stören. Auch der vor dem Ortseingang über Nacht parkende Bus erregt den Unmut der Gemeinde und der Zwischenfall endet mit einem Polizeieinsatz. Die Orte sind jeweils mit den Reisemotiven einzelner Figuren verbunden, welche nach und nach aufgedeckt werden. Da ist zum Beispiel Michael, der nach Abschluss seines Medizinstudiums nach Südafrika aufbrach, um dort Kranken zu helfen, dann einem Jesuitenorden beitreten wollte und schließlich als Busfahrer des Magic Bus endete. Oder der Ire Ryan, für den sich das heimatliche Dorf zu beengend anfühlte, nicht nur in räumlicher Hinsicht. Mit seiner Partnerin Mirthe tritt er jetzt zum zweiten Mal die Fahrt nach Nepal an.

Und natürlich Karla: eine Schönheit, die zwischen dem Wunsch, allein zu sein, und dem Streben nach Anerkennung durch ihre männlichen Partner hin und her gerissen ist. Eine impulsive Frau, oder um es mit den Worten Coelhos zu sagen:

Sie wäre gerne eine Blume gewesen, die, von der Liebe in eine Vase gestellt, in deren immer frischem Wasser sie, wie eben gepflückt, auf denjenigen wartete, der den Mut – genau, das war das Wort: Mut – hätte, sie sich zu nehmen. Aber es kam nie jemand – besser gesagt, die Männer kamen und gingen gleich wieder, ganz verschreckt, weil sie nicht eine Blume in einer Vase vorfanden, sondern eine Naturgewalt, ein Unwetter mit Blitzen, Sturm und Donner.

Karla ist unstet, schnell gelangweilt. Von einem ihrer zahlreichen verflossenen Liebhaber wurde ihr sogar eine Depression diagnostiziert. Sowohl die Gespräche, als auch die nonverbale Verständigung zwischen ihr und Paulo sind von einer durchdringenden Fehlkommunikation gezeichnet, die für den Leser stellenweise schier unerträglich wird. Es grenzt an ein Wunder, dass die Figuren sich als Reisekumpanen erkannt und gefunden haben, ja an einem Punkt der Erzählung sogar miteinander schlafen und schließlich so etwas wie ein Paar werden, da sie doch eigentlich noch nicht mal offen miteinander reden können. Die Frustration über diese Tatsache färbt recht schnell auf den Leser ab und überschattet die eigentliche Erzählung. Die Charakterisierung Karlas bleibt im Klischeehaften stecken. Bis zum Ende des Romans gelingt es der Figur nicht, die ihr zugewiesene Rolle der verwirrten, aber attraktiven Frau, die sich selbst als aggressiv und in einem ewigen Konkurrenzdenken verhaftet beschreibt, abzuschütteln.

Die Darstellung Paulos wirkt etwas tiefgründiger. Dies ist aber auch wenig überraschend, handelt es sich bei Hippie doch um einen Roman mit autobiographischen Anteilen. Coelho verwendet seine eigenen, traumatischen Erfahrungen mit der brasilianischen Polizei: Diese hatte ihn auf den Verdacht hin, er sei in die Guerillakämpfe um Che Guevara verwickelt, festgenommen und gefoltert. Noch heute lässt die Erinnerung daran sein Herz beim Anblick eines Polizisten jedes Mal einen Schlag aussetzen.

Keiner durfte etwas über die Erlebnisse in Ponta Grossa erfahren und die panische Angst, die ihn seither jedes Mal befiel, sobald er das Wort Polizei sah. Er würde sich nie wieder sicher fühlen […]. Die Folter und das Gefängnis hatte er in der physischen Realität zwar hinter sich gelassen, aber in seiner Seele waren sie weiterhin sehr gegenwärtig.

Sonderlich rebellisch ist der Protagonist Paulo trotzdem nicht. Sein Verhalten mag zwar nicht konform mit dem der Gesellschaft sein, im Rahmen des Hippietums fällt er jedoch nicht durch Exzentrik auf. Er besitzt eine gewisse Neugierde, ohne ein Draufgänger zu sein. Seine Reise scheint kein rechtes geographisches Ziel zu haben, sie ist vor allem spiritueller Art: In Amsterdam tanzt er mit den Krishna-Anhängern durch die Straßen, während eines längeren Zwischenstopps in Istanbul verfolgt er das Ziel, dem Geheimnis der Derwische auf die Spur zu kommen. Der Roman ist von Texteinschüben durchzogen, die eher an die Inhalte eines Selbsthilfebuches erinnern. Es ist von „Schwingungen der Liebe“ die Rede, es werden Empfehlungen wie die folgende ausgesprochen:

Ein Mensch auf der Suche nach Spiritualität weiß wenig, denn er liest darüber und versucht seinen Intellekt mit etwas zu füllen, das er für weise hält. Verkaufe deine Bücher und erwirb stattdessen Verrücktheit und Begeisterung – damit kommst du dem Ganzen schon ein wenig näher.

Die Paradoxie des in den freien Gesellschaften Europas gefangenen Individuums kommt bei alldem ebenfalls zur Sprache – wenn auch nicht sehr prominent. Die Menschen sind frei, doch ohne Reisepass wird schon der Grenzübertritt zum Problem. Solche Barrieren existieren auch im Kleinen, fest verankert in den Köpfen der Figuren: Karla will selbstbestimmt sein, läuft aber durch die ihr von den Eltern auferlegten, gesellschaftlichen Zwänge und Konventionen immer wieder gegen unsichtbare Wände. Kann sie vielleicht deshalb nicht offen mit Paulo, der ihr zunehmend wichtiger wird, kommunizieren?

Die Erzählung selbst übernimmt in Hippie die Rolle eines Vehikels, das es ermöglicht, Reisen in ferne Länder, zu Sehnsuchtsorten, antreten zu können. Durch den Fokus auf die nervenaufreibende Darstellung der dysfunktionalen Beziehung zwischen Paulo und Karla erfüllt sie aber ihre eigenen Ansprüche nicht – der Leser bleibt mit dem Gefühl zurück, dass der Roman mehr Potenzial gehabt hätte. Was bleibt, ist die recht abgedroschene Grundaussage: Der Weg ist das Ziel.

Der Diogenes-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.