Buchtipps: Grenzgänge

‚Grenzgänge‘ ist das Thema, das Auf der Höhe im neuen Semester begleiten wird. Ob physische, politische und geografische Grenzen, moralische, metaphorische oder gar literarische Grenzen – die Möglichkeiten sind schier unendlich. Um das Thema gebührend einzuläuten, empfehlen wir euch heute passende Bücher, die eine dementsprechend große Vielfalt bieten.

Nadine empfiehlt:
Fridolin Schley – Ungesichter

Die fünfzehnjährige Amal aus Somalia führt ein einfaches aber zufriedenes Leben. Das muslimische Mädchen geht zur Schule, hört gerne Hip-Hop und liest Liebesromane – bis eine islamische Miliz ihr Dorf überfällt, ihren Vater ermordet und Amal verschleppt. Ihr gelingt die Flucht und mithilfe von Schleusern macht sie sich auf nach Europa – eine lange und beschwerliche Reise beginnt, die Amal oft an den Rande des Wahnsinns treibt.

Flucht, Auffanggefängnisse, Rastlosigkeit, Zwangsehe, Panik, Vergewaltigung – all das hat ein Mädchen, das reale Vorbild Amals, wirklich erlebt. Fridolin Schley wählt eine ungewöhnliche Methode, dies literarisch umzusetzen: seine Novelle, die er in gemeinsamer Arbeit mit dem Flüchtlingsmädchen aus Somalia schrieb, besitzt keinen einzigen Absatz und nur einen Punkt ganz am Ende des Buches. Die Sätze sind hektisch, das Tempo enorm, und das Buch entwickelt einen unglaublichen Sog, der seine Leser förmlich spüren lässt, dass sie mit Amal auf der Flucht sind. Eine ganz große Leistung, eine außergewöhnliche und wichtige Novelle, die da im Rahmen des Projekts „Die Hoffnung im Koffer“ von Refugio München entstanden ist.

Anthoula empfiehlt:
Olga Grjasnowa – Gott ist nicht schüchtern

In ihrem dritten erschienen Buch stellt die Autorin den syrischen Bürgerkrieg und seine Folgen dar. Amal und Hammoudi, die Protagonisten des Romans, sind zwei erfolgreiche junge Menschen: Hammoudi hat sein Medizinstudium absolviert und ist mit Claire verlobt, Amal ist Schauspielerin. Als die Revolution beginnt und die beiden ihr Land verlassen müssen, treibt es die Flüchtlinge auf ein großes Frachtschiff mit mehreren anderen Syrern. Nach ihrer langen Seereise treffen die beiden in Berlin aufeinander, um ihr Leben wieder aufzubauen und sich in einem fremden Land zurechtzufinden.

Grjasnowas neuer Roman mit seinen 309 Seiten ist ein knappes Meisterwerk, welches ein aktuelles Thema in der Gesellschaft anspricht und uns zeigt, dass draußen noch eine andere, nicht sonderlich friedliche Welt herrscht.

Lara empfiehlt:
Italo Calvino – Wenn ein Reisender in einer Winternacht

„Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite.“

Ich? Was habe ich denn in dem Text zu suchen?
– Eine ganze Menge, denn immerhin bin ich, also der Leser, also auch Du oder Sie, der Protagonist des Buches. Und als Leser liest man eben Calvinos Buch Wenn ein Reisender in einer Winternacht IN seinem Buch. Zumindest glaubt man, es zu tun, bis der Romananfang nach einigen Seiten unpassenderweise an der fesselndsten Stelle abbricht. Es stellt sich heraus, dass das Romanexemplar des Leser-Protagonisten fehlerhaft ist und wieder von vorne beginnt, die Handlung an der abgebrochenen Stelle nicht weiter geht.

Was auf den ersten Blick verwirrend und anstrengend erscheinen mag, ist ein hochinteressantes Spielchen, das der Autor mit seinem Leser treibt. Immer wieder nimmt der Text auf seine eigene Erzählwelt, aber auch auf die Welt außerhalb des Buches Bezug. Die vom Text veranstaltete Schnitzeljagd nimmt über die Länge des Romans hinweg Fahrt auf und hält die eine oder andere spannende Absurdität bereit. Auch ist die ungewöhnliche Konzeptionierung des Romans es unbedingt wert, sich von ihm aufs Glatteis führen zu lassen.

Nadine empfiehlt:
Gabriel Tallent – Mein Ein und Alles

Turtle Alveston und ihr waffennärrischer Vater leben zurückgezogen in einer Hütte an der nordkalifornischen Küste. Der durchaus charmante aber soziopathische und gewalttätige Martin drillt sie auf Survival-Mode, bis das Turtle zwei Jungs aus ihrer High School kennenlernt und sich mit ihnen anfreundet – und Martin begreift, dass er seinen „Krümel“ nicht ewig für sich alleine haben wird.

Tallents Debütroman ist in den USA enorm erfolgreich und viel diskutiert. Zurecht: ist das noch Literatur oder schon Voyeurismus? Wie auch in Hanya Yanagiharas Roman Ein wenig Leben wird der Leser mit unglaublich viel Gewalt und Leid konfrontiert, moralische Grenzen werden nicht nur überschritten sondern völlig weggesprengt. Trotzdem, oder gerade deswegen, brilliert Mein Ein und Alles, dessen schockierender und harter Plot in einem genialen Kontrast zu seiner poetischen Sprache voll detaillierter Naturbeschreibungen steht.

Larissa empfiehlt:
Deborah Feldman – Unorthodox

Deborah Feldman wurde 1986 in New York geboren und wuchs dort in der chassidischen Satmar-Gemeinde, einer ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft, im Brooklyner Stadtteil Williamsburg auf. Ihr als „autobiographische Erzählung“ betiteltes Debüt Unorthodox erschien 2012 in den USA und wurde unmittelbar nach der Publikation zu einem Bestseller. Auf eindrückliche und beklemmende Weise schildert sie darin ihre Erinnerungen an ein von strikten Regeln und Glaubensgrundsätzen geprägtes Leben. Mitten in New York und doch isoliert vom Rest der Gesellschaft, scheinen die von Feldman beschriebenen streng orthodoxen Alltags- und Lebenspraktiken wie aus der Zeit gefallen: Verbote, Fremdbestimmtheit, patriarchale Strukturen und die Unterdrückung der Frau verhindern jegliche Möglichkeit der individuellen Entfaltung.

Feldmans Debüt ist in einer sehr klaren und poetischen Sprache geschrieben, verdichtet die tatsächlichen Erfahrungen der Autorin und bewegt sich allein dadurch schon auf dem schmalen Grat zwischen Autobiographie und Roman. Der Autorin gelingt es, ihre Leser bis an die Grenzen des Verstehens zu bringen.

Lara empfiehlt:
Georg Klein – Miakro

Männer arbeiten im Mittleren Büro, sie schauen angestrengt in das weiche Glas ihrer Pulte und beobachten vorbeiziehende Bilder. Zur Mittagspause begeben sie sich in den Nährflur. Als ein Binnenwind aufkommt, wird der Büroleiter unruhig und begibt sich gemeinsam mit seinen Kollegen hinaus.

Die Grenze, mit der Georg Klein in Miakro spielt, ist die des Verständnisses. Die entworfene Welt entzieht sich den uns bekannten Einordnungsmustern so konsequent, dass lange Zeit nicht deutlich wird, was genau in Miakro eigentlich passiert. Noch dazu spendiert Klein seiner ungewöhnlichen Erzählwelt viele neue Wörter, die allenfalls erahnen lassen, was mit ihnen bezeichnet werden soll. Wenn der Leser sich einmal auf die frustrierende, weil unverständliche, Romanwelt eingelassen hat, eröffnet sich ihm eine Erzählung, die faszinierend anders ist.