Anschreiben wider das Vergessen: Fernando Aramburus „Patria“

„Das ist ein Land von Verrückten“, heißt es an einer Stelle des Romans. Das Land, von dem die Rede ist: das Baskenland an der französisch-spanischen Grenze. Bis zum Jahr 2018 von der Gewalt und den Anschlägen der ETA, der baskisch marxistisch-leninistischen und separatistischen Terrororganisation, tief erschüttert und gespalten. Der gebürtige Baske Fernando Aramburu, seit Mitte der achtziger Jahre in Hannover lebend, hat mit seinem aufwühlenden Roman besonders in Spanien für Furore gesorgt und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Patria erzählt von Trauer, Leid, Zerrissenheit und Feindseligkeit, aber auch von der Hoffnung auf Aussöhnung und Normalität.

von Caroline Köhler

Aramburu konzentriert sich weniger auf Beschreibungen des ideologischen Überbaus und der Organisationsstruktur der ETA, sondern geht der Frage nach, wie der Terror auf eine Gemeinschaft und auf die in ihr lebenden Menschen wirkt, die einem permanenten Klima der Denunziation und Bedrohung ausgesetzt sind, wo aus Freunden Feinde werden und der Tod allgegenwärtig ist. Zum Ausgangspunkt des Romans wird ein Verbrechen in der Vergangenheit. Der Mord an dem erfolgreichen baskischen Fuhrunternehmer Txato, der vor 20 Jahren auf offener Straße von der ETA erschossen wurde. Zeugen wollten sich nicht finden, ein Mörder wurde nie entdeckt, das Verbrechen nie aufgeklärt. Dieser ideologisch motivierte Mord an dem vorgeblichen Systemfeind der ETA in Form des Kapitalisten wird zum Bezug, um den sich die Handlungsstränge, die Reflexionen und Erinnerungen der unterschiedlichen Figuren gruppieren. Kaleidoskopartig werden die Perspektiven der Figuren und ebenso Vergangenheit und Gegenwart durch ständige Zeitsprünge miteinander verwoben. Der innere Monolog einer Figur kann im nächsten Satz in die personale Erzählweise aus Sicht einer anderen Figur übergehen. Diese konsequent durchgehaltene Mehrschichtigkeit in Form von Multiperspektivität und Zeitsprüngen mag anfänglich Verwirrung stiften, sorgt aber für eine ungemeine Verdichtung des Geschehens.

Bittori, die Witwe des Ermordeten und mittlerweile unheilbar an Krebs erkrankt, lässt am Grab des Toten, der aus Angst vor Grabschändung nicht auf dem Dorffriedhof beerdigt wurde, den Leser an ihrer Trauer, ihrer Wut, ihren Verletzungen und ihrem Plan, das Verbrechen aufzudecken, teilhaben. Sie kennt nur noch einen Wunsch und ein Ziel: Das Schweigen zu brechen, die Umstände von Txatos Tod aufzuklären und den Mörder ihres Mannes zu finden. Auch die traumatisierten und mittlerweile erwachsenen Kinder Bittoris Nerea und Xabier erzählen aus ihrer Perspektive von der Trauer über den Tod des geliebten Vaters, von den zu erleidenden Demütigungen als Angehörige eines Opfers der ETA und dem Wunsch, sich ein eigenes Leben aufzubauen, das nicht von der Ermordung des Vaters überschattet ist.

Der Fokus in Aramburus Patria liegt eindeutig auf den Angehörigen, die nicht nur auf grausame Art Familienmitglieder unwiederbringlich verloren haben, sondern die ihr Umfeld auch ständig an sein Kollektivversagen erinnern, aus Feigheit oder Fanatismus, das Morden nicht gestoppt zu haben.

Die Familie des Täters und der Täter selbst kommen ebenso zu Wort und erzählen aus ihrer Perspektive das Erlebte. Eltern, die ihren Sohn bis ans eigene Lebensende im Gefängnis besuchen müssen. Ein Täter, der durch jugendliche Verführbarkeit dem fatalen Glauben aufgesessen ist, sich als vermeintlich ruhmreicher Kämpfer und Held ins kollektive Gedächtnis der Basken einzuschreiben, um dann zu merken, dass er nur ein williges Instrument in den Händen knallharter Ideologen war.

Patria versucht durch seine Multiperspektive, das Unbegreifliche begreifbar zu machen oder sich ihm doch zumindest anzunähern. Aramburus Roman zeigt, dass einfache Erklärungen und mangelnde Differenzierungen nicht taugen, einem komplexen Phänomen, dem Zusammenhang von Terror und den in ihm (über)lebenden Menschen, auf die Spur zu kommen. Gerade in dem vielschichtigen Portrait und dem zwischen den Zeilen verborgenen Plädoyer für Humanität, Toleranz und Gewaltlosigkeit liegen die Stärken des Romans und weniger in seinem literarischen Anspruch, da sich manch ausufernde Passagen störend auf die Stringenz des Erzählten auswirken.

 

Der Rowohlt-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.