Seit fast anderthalb Jahren gibt es unseren Blog nun schon – Wahnsinn! Inzwischen ist das regelmäßige Schreiben hier für viele von uns ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden. Mit großem Eifer verfassen wir Rezensionen, berichten über Veranstaltungen, die wir besucht haben oder besuchen möchten, und sammeln Ideen für neue Buchtipp-Listen.
Darüber, wie es bei uns in den ‚Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaften‘ (‚AVL‘) der Uni Wuppertal so hinter den Kulissen aussieht, haben wir bisher eher geschwiegen. Das soll sich nun ändern. Am 19. Dezember feierten wir nämlich unsere alljährliche Weihnachtsfeier, an der wir euch rückblickend gerne teilhaben lassen möchten.
von Jana Schmidt
Obwohl wir mit 35 Einschreibungen ein recht kleiner und sehr familiärer Studiengang sind, läuft sich ein Großteil von uns im normalen Uni-Alltag oft wochenlang nicht über den Weg. Es gibt nur sehr wenig obligatorische Vorlesungen und Seminare, die meisten Kurse belegen wir nach individuellen Interessensschwerpunkten. Kurz vor Jahresende kommen wir dann aber im Rahmen der Weihnachtsfeier noch einmal (fast) alle zusammen – und freuen uns immer wahnsinnig. Schon dieser Umstand allein macht den Abend zu einem ganz besonderen.
Der Ablauf ist stets der gleiche und dennoch jedes Mal speziell: Um 18 Uhr finden wir uns im Raum ‚O.08.36‘ ein, um bei Glühwein bzw. Saft, Keksen und Kerzenschein einem literaturwissenschaftlichen Vortrag zu lauschen. Hierfür wird extra eine Gastrednerin oder ein Gastredner eingeladen. Dieses Jahr kam Prof. Dr. Rolf-Peter Janz von der FU Berlin zu uns. In seinem Vortrag mit dem Titel Die Flucht nach Europa und ihre Fiktionalisierung widmete er sich dem Umgang mit Menschen, die ihre Heimat aufgrund von Krieg, Verfolgung und Armut verließen, um ein besseres – und vor allem sicheres – Leben in der EU zu führen. Sein Fokus lag dabei, neben gesamtgesellschaftlichen sowie individuellen Reaktionen, insbesondere auf der medialen Darstellung. Er hatte zwei literarische Publikationen ausgewählt, um uns die komplexe, mitunter erschreckende Thematik näherzubringen: Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015) sowie Elfriede Jelineks Prosa-Text Die Schutzbefohlenen (2013). Beide Werke widmen sich kongruenten Inhalten, greifen jedoch sehr unterschiedlich darauf zu – beispielsweise in narrativer Hinsicht: Erpenbecks Leserinnen und Leser betrachten die geschilderten Ereignisse durch die Brille des emeritierten Linguistik-Professors Richard. Obwohl er zeitgleich selbst dort war, lässt ihn erst ein abendlicher TV-Bericht einen Hungerstreik afrikanischer Flüchtlinge auf dem Berliner Alexanderplatz wahrnehmen. Nun wachgerüttelt, beginnt er, sich immer stärker für die Schicksale jener Menschen zu interessieren. Protagonist und Rezipierende erlangen Stück für Stück mehr Einblicke in die Problematik (wenngleich Erpenbeck ein nicht unerhebliches Maß an Vorkenntnis präsupponiert).
Die Schutzbefohlenen verzichtet gänzlich auf eine übergeordnete Erzählinstanz. (Fiktive) Geflohene, die in Wien Asyl suchen, kommen stattdessen selbst zu Wort. Jelineks Text ist in starker Anlehnung an Aischylos’ antike Tragödie Die Schutzflehenden konzipiert. Die Figuren treten als (an-)klagender Chor auf, der sich unterschiedlichsten Adressaten wie zum Beispiel Politikern, Familienangehörigen, aber auch Gott selbst zuwendet. Jene, von zahlreichen intertextuellen Versatzstücken durchzogene, ‚Vielstimmigkeit‘ ist typisch für Elfriede Jelinek.
Prof. Dr. Janz’ übergeordnete These: Fiktion ist geeigneter, uns die Realität näherzubringen, da sie das Publikum auf Distanz hält und nicht auf dessen Mitleid zielt. Wenngleich die beiden genannten Texte klar im Zentrum seiner Erörterungen standen, verblieb er keineswegs auf der Wortebene. Der vorletzte und der letzte Teil widmeten sich der Realitätsanmutung von Bildern allgemein, besonders hinsichtlich medialer Berichterstattung, sowie einer Bühneninszenierung von Die Schutzbefohlenen unter der Regie des Berliner Regisseurs Michael Thalheimer.
Der gleichsam kurzweilige und dabei so bedeutungsschwere Vortrag fesselte uns alle. Prof. Dr. Janz erzeugte mit seiner Darbietung nicht nur eine gebannte Stille im Raum, sondern ebenfalls eine Menge Gesprächsbedarf, der sich in Form einer regen Beteiligung während der nachfolgenden Diskussion äußerte. Anknüpfend an eine mitgebrachte Fotografie des Thalheimer’schen Theaterstücks, sprachen wir unter anderem über das Spannungsfeld zwischen dem Leid der Flüchtlinge und der Ästhetik des Bildes. Außerdem ging es noch einmal explizit um das Vermögen textlicher Fiktionalisierung, den Blick auf reale Geschehnisse zu verändern. Überdies wurden der pädagogische Nutzen einer solchen littérature engagée beleuchtet und Parallelen zu Aristoteles’ katharsis-Theorie gezogen, welche jedoch schlussendlich zugunsten einer intendierten Empathie-Förderung ad acta gelegt wurden.
Es ist ebenfalls AVL-Tradition, die Weihnachtsfeier bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch ausklingen zu lassen. Wie jedes Jahr genossen wir es sehr, uns in gemütlicher Atmosphäre untereinander sowie mit den Dozierenden auszutauschen. Doch auch hier kam es immer wieder zu ernsteren Gesprächen. Wir in der AVL betrachten unser Studium nämlich – entgegen manch hartnäckiger Vorurteile – keineswegs als literaturwissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern setzen uns intensiv mit gesellschaftlichen und politischen Problematiken auseinander. So planen wir beispielsweise schon seit längerem einen Studientag zum Thema Grenzgänge, welcher am 5. Juli 2019 stattfinden soll. Auch dabei wird der Kontext ‚Flucht‘ eine zentrale Rolle spielen. Natürlich halten wir euch hier im Blog diesbezüglich auf dem Laufenden.