Maruan Paschen – Weihnachten

Jedes Jahr trifft sich Familie Paschen an einem See in Norddeutschland, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Und jedes Jahr läuft alles ziemlich gleich ab: der altbekannte Smalltalk, ein Spaziergang durch die verschneite Winterlandschaft, die abendliche Bescherung mit den üblichen, mehr oder weniger liebevoll ausgewählten Geschenken, anschließend Fondue mit Walnusssoße. Doch beim letzten Weihnachtsfest war etwas anders – und danach war nahezu die gesamte Familie Paschen tot.

von Jana Schmidt

In Maruan Paschens Zweitwerk Weihnachten berichtet der Protagonist Maruan seinem Psychotherapeuten Dr. Gänsehaupt von den Ereignissen des vergangenen Heiligabends, der in eine Reihe tragischer (Selbst-)Morde mündete. Und, wie in einer Therapiesitzung üblich, gewährt er dabei tiefe Einblicke. Auf insgesamt 196 Seiten erfahren sowohl Dr. Gänsehaupt als auch die Leserinnen und Leser einiges über die Hintergründe dieser Familie, die keine Gelegenheit für ein Gesellschaftsspiel auslässt, krampfhaft an den alljährlichen Traditionen festhält und sich nach außen hin als innig verbundene, liebevolle Einheit präsentiert, indem sie sich für das Fondueessen mit Handschellen zusammenkettet.

„Manchmal scheint es mir, als gäbe es eine Mauer aus Familie zwischen mir und der Welt. Viel zu hoch, um sie zu überwinden, viel zu fest im Boden verwurzelt, um mich darunter durchzugraben.“

Da ist zum einen Maruan selbst, geboren 1984 als Sohn einer Deutschen und eines Arabers, den er jedoch nie kennenlernte (übrigens Merkmale, die der Roman-Maruan und der Autor Maruan Paschen miteinander teilen). Da ist seine Mutter, deren Perfektionismus soweit reicht, dass sie sogar das richtige Geschenkeauspacken mit ihrem Sohn trainiert. Und da sind ihre fünf Brüder, zum Beispiel der krebskranke Art, der ein Faible für Erdbeeren hat, auf die er eigentlich hoch allergisch reagiert. Oder Berti und Otto, die sich schon als Kinder stets ein Bett teilten und es womöglich noch immer tun.

Eine Thematik, die im Laufe der Erzählung mehrfach wiederkehrt, ist Fremdenfeindlichkeit. Sie wird auf der Figurenebene verkörpert von Tarzan (einem weiteren Onkel), der mit einer Tunesierin verheiratet war und trotzdem – oder gerade deshalb – eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Arabern hat. Tarzan weiß nicht nur alles über Wein, er weiß alles über alles und alle. Mit seinen, größtenteils sehr fragwürdigen, Theorien stellt er sich immer wieder ungebeten in den Mittelpunkt und wird so ein Stück weit zum eigentlichen Protagonisten des Werkes. Vor diesem Hintergrund erscheint es keineswegs verwunderlich, dass das Cover von Weihnachten nicht etwa ein Christbaum oder ein Fonduetopf ziert, sondern ein Abbild der lianenschwingenden Kunstfigur.

„Dann sprach Tarzan von einem König in Ägypten, von dem niemand genau wisse, ob es ihn wirklich gegeben habe. Dann sprach er von eingelegten Sardinen und dann von etwas ganz anderem und dann gehörten die Sardinen und der König plötzlich zusammen. […] Tarzan sagte auch die Wörter »Schiff«, »Hannibal der Dritte«, »Trabanten«, »Buchenpilz«, »Saumagen«, »Seebebauungsanlage«, »Israel«, »Fortschrittskatechismus«. Aber die Wörter meinen alle etwas ganz anderes. Die Wörter meinen alle Tarzan.“

Genau wie sein Onkel, büßt auch Paschens Erzähler selbst immer mehr an Glaubwürdigkeit ein. Zu skurril erscheinen seine Geschichten. So habe nicht nur Art in seiner Jugend auf der Suche nach einem Weihnachtsbaum mal versehentlich ein Auto geklaut. Weiterhin sei die Mutter ganz ohne Knochen geboren und deshalb als Kind regelmäßig in einem riesigen Cognac-Schwenker herumgetragen worden. Sein Onkel Otto habe sich unterdessen mehrere Jahre in der Gewalt von Außerirdischen befunden. Jene haarsträubenden Absurditäten, gepaart mit zahlreichen kleineren und größeren Ungereimtheiten innerhalb der einzelnen Handlungsstränge lassen die Leserin oder den Leser zunehmend an der Authentizität des Gesagten zweifeln. Am Ende muss man sich gar fragen: Ist überhaupt jemand gestorben? Handelt es sich bei Dr. Gänsehaupt wirklich um einen Therapeuten? Und wenn nicht, wer ist er dann? Existierte er jemals?

Doch all diese Fragen verlieren wiederum ein beachtliches Stück an Relevanz, wagt man einen Blick über den inhaltlichen Tellerrand hinaus. Denn wenngleich Maruan Paschen seitens der Presse vielfach für seine gelungene, tragisch-komische Darstellung einer absurden Familiengeschichte gelobt wird – und dies gelingt ihm zweifelsohne ausgesprochen gut – scheint es ihm (ebenso) um etwas ganz anderes zu gehen: das Spiel mit der Sprache. Kraft seiner Festtagsschilderungen, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman ziehen und dabei ständig von mehr oder minder relevanten Exkursen über die Lebensgeschichten anwesender wie abwesender Familienmitglieder unterbrochen werden, verschafft Paschen sich eine Bühne, auf welcher er seinem Publikum die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Sprache präsentiert. In raffinierter Weise greift er zu unterschiedlichsten literarischen Darbietungsformen, überspitzt jene bis aufs Äußerste und spickt seinen Text mit einem facettenreichen Repertoire an rhetorischen Figuren. Schlussendlich meint scheinbar doch nicht alles „Tarzan“, sondern ist Teil einer riesigen ironischen Metapher.

„Im Wald lauschen wir einer Sprache, die es nicht gibt. Aber wir sagen, dass das die Sprache des Waldes ist. Wir fallen und stolpern und zeigen auf unsere Wunden, die etwas ganz anderes zeigen. Wir essen zusammen und sagen »Walnusssoße«. Wir haben Bauchschmerzen und sagen, dass das lecker war, aber wir meinen etwas ganz anderes. An der Tür sagen wir »Hallo« und dass das sehr lecker wird. Aber wir meinen etwas ganz anderes.“

Mit seinem fuchsiafarbenen Einband und dem Dschungelhelden auf seinem Schutzumschlag erzeugt Weihnachten auf den ersten Blick nur sehr bedingt Weihnachtsstimmung (um nicht das Wort »sommerlich« zu verwenden). Dennoch eignet es sich eindeutig als Weihnachtsgeschenk – mindestens für all jene, die sich von der (Ohn-)Macht der Sprache begeistern lassen.