Erinnern und Vergessen scheinen als Gegensatzpaar miteinander unvereinbar zu sein – oder nicht? Ein Buch über den unterschiedlichen Umgang mit der Vergangenheit und dessen individuelle Bedeutung.
von Helena M. Stock
Anna liebte Boskop, Bertha Cox Orange. Im Herbst duftete das Haar der Schwestern nach Äpfeln, ihre Kleider und Hände sowieso. Sie kochten Apfelmus und Apfelmost und Apfelgelee mit Karneel, und meistens hatten sie Äpfel in der Schürzentasche und angebissene Äpfel in der Hand. Bertha aß erst schnell einen breiten Ring um den Bauch des Apfels herum, dann vorsichtig unten um die Blüte, dann oben um den Stiel, das Kerngehäuse warf sie in hohem Bogen fort. Anna aß langsam und genussvoll, von unten nach oben – alles. Auf den Kernen kaute sie noch stundenlang herum. Als Bertha ihr vorhielt, dass die Kerne giftig seien, erwiderte Anna, sie schmeckten aber nach Marzipan.
Jahrzehnte später kehrt Iris Deelwater anlässlich der Beerdigung ihrer Großmutter Bertha in deren norddeutschen Heimatort zurück. Es ist nicht das erste Begräbnis, welchem sie beiwohnen muss, sodass in ihr Erinnerungen aufkommen. „Das Fallen liegt bei uns in der Familie“, stellt Iris fest, als sie sich an ihr plötzliches In-Ohnmacht-Fallen während der Beerdigung ihrer jung verstorbenen Cousine Rosmarie erinnert. Geblieben ist eine weiße Narbe auf ihrer Stirn. Das Fallen in der Familie Deelwater ist ein facettenreiches und stetig wiederkehrendes Motiv. So beginnt nach Berthas Fall vom Apfelbaum das allmähliche Entfallen ihrer Erinnerungen: Was einst glasklar war, wird nun unklar. Der weiße Sand der fallen gelassenen Sanduhr lässt das schwarz-weiße Ordnungsmuster des Küchenbodens verschwimmen.
Das Haus, welches Bertha noch lange Sicherheit geboten hatte, vermachte sie nicht einer ihrer drei Töchter, sondern ihrer einzigen noch lebenden Enkelin Iris. Diese setzt ihre Arbeit als Bibliothekarin in der Freiburger Universitätsbibliothek aus, zieht in das Haus und beginnt den Verkauf in die Wege zu leiten. Als sie vor einem der Bücherregale steht, erkennt sie, dass sie dessen Ordnungsmuster ebenso wenig durchblickt wie das des Gestrickten ihrer verstorbenen Großmutter: Nur anhand der Buchrücken Zusammenhänge zu erschließen ist unmöglich.
Iris‘ Umgang mit Erinnerungen ist zwiespältig. Sie legt das schwarze Trauerkleid ab, um in ein altes Kleid ihrer Tante zu schlüpfen, welches sie augenblicklich an die Zeit erinnert, in der sie mit Rosmarie und der gemeinsamen Freundin Mira im Garten zwischen den Apfelbäumen spielte. Dass das Erinnern sich jedoch nicht nur auf die angenehmen Dinge eingrenzen lässt, erkennt Iris, als Carsten Lexow, der betagte Nachbar, ihr den Grund seiner Instandhaltung des Hauses während Berthas Zeit im Pflegeheim offenbart. Iris wendet sich zunehmend bewusster Erinnerungen zu: Sie durchstreift Haus und Garten, setzt das alte Fahrrad ihres Großvaters in Stand und dehnt ihre Reise durch die Vergangenheit aus. Diese führt sie von ihren Großeltern, über die Geschichte ihrer Tanten, bis hin zu ihrer eigenen Generation. Zunehmend wird ihr der vielgestaltige Umgang mit der Vergangenheit bewusst. Und sie erkennt, dass auch das Erinnern eine Möglichkeit des Vergessens sein kann.
Katherina Hagena erzählt von einem Sommer, der von einer Fülle schillernder Erinnerungen bereichert wird. Das Buch vermittelt somit eine Komposition von Sinneseindrücken: Es lässt sich nicht nur lesen und sehen, sondern geradezu hören, riechen, schmecken und fühlen. Die Vielfalt der Eindrücke spiegelt sich nicht zuletzt im Reichtum der Symbole und Motive. Der Geschmack von Apfelkernen ist eine Einladung sich zu erinnern.